»… aus dem Geist des Boulevards«!

Zur Physiognomie urbaner Tanzmusik- und Unterhaltungskultur in der Tonfilmoperette

Marko Paysan

Reihe CineGraph Buch

Katja Uhlenbrok (Redaktion):
MusikSpektakelFilm. Musiktheater und Tanzkultur im deutschen Film 1922 - 1937

I.

Es gab alles, alles! Das hinderte nicht, daß sich die meisten wie Sarcey durch die Operette in ein Traumreich entführt glaubten. Sie träumten selber. Wären sie wach gewesen, so hätten sie (…) die unwahrscheinliche Wirklichkeit ihres Daseins wiedererkannt.

Siegfried Kracauer: Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit

Was für die Annäherung an das ästhetische Phänomen der Operette gilt, findet sich in ähnlicher Form in der bisherigen filmhistorischen Beschäftigung mit der Film-, insbesondere der Tonfilmoperette wieder. Allerdings blieb ihr die in den Vorkriegsjahren und vollends nach dem Krieg einsetzende breite Erörterung um eine »Krise der Operette« erspart.1 Denn bevor das Genre in die Krise kam, hatte es aufgehört zu existieren. Aber im übrigen wird der Tonfilmoperette gern nachgesagt, was ihre ältere Verwandte von der Bühne seit ihrer Jugend im Paris des 19. Jahrhunderts zu hören bekommt: Sie verhielte sich zur Wirklichkeit »eskapistisch«, sie sei ein bloßer »Traum«, ein »Tagtraum«.2

Das »eskapistische Genre« - so lautet denn bei Siegfried Kracauer in seinem Buch »Von Caligari zu Hitler« das Rubrum für eine der ersten von der Ufa produzierten Tonfilmoperetten, Die Drei von der Tankstelle (1930, Wilhelm Thiele). Doch in seinem Buch »Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit« widerspricht Kracauer dem pariser Kritiker Francisque Sarcey, einem Zeitgenossen Offenbachs, daß dessen Operette »Pariser Leben« ihrer Unwahrscheinlichkeit wegen wie ein Traum sei - mit Karl Kraus: daß hier »das Leben beinahe so unwahrscheinlich ist, wie es ist.«3 Damit ist freilich nicht das Leben des ganzen Paris gemeint, sondern nur das Dasein eines bestimmten, gleichwohl einst bestimmenden Kreises - der »Boulevard, seine Gewissenlosigkeit und Frivolität, seine Keckheiten, Versuchungen, Unwahrscheinlichkeiten«.4

Das Kraus-Zitat zu »Pariser Leben« läßt Kracauer nicht unkommentiert: »Tatsächlich übertrieb die Operette nicht das Vorhandene, sondern blieb eher hinter ihm zurück.«5 Eben: das Vorhandene! Vor allem darum geht es Kracauer, erstrebte er doch mit seinem Offenbach-Buch keine Biografie im üblichen Sinn, sondern mittels materialistischer Geschichtsbetrachtung eine, wie er es nennt, »Gesellschaftsbiographie«.6 Gerade einen solchen Versuch aber ließ die Literatur zur deutschsprachigen Filmoperette bislang vermissen. Hierbei sind ästhetische Sensibilität und Affinität zum Thema gleichwohl unverzichtbar: Siegfried Kracauer besaß bei der Niederschrift seiner »Gesellschaftsbiographie« beides. In seinen Beiträgen für die »Frankfurter Zeitung« hatte er sich Anfang der 30er Jahre vornehmlich den »ephemeren Kulturphänomenen«, von Kino bis Varieté, ingeniös gewidmet. Wie Jacques Offenbach lebte er als Deutscher und Jude in Paris, aber anders als dieser notgedrungen und als Exilant. Obgleich Kracauer den musikologischen Aspekt in dieser Biografie ausgeklammert hatte, lobte ein Komponist wie Ernst Krenek in seiner Rezension - nicht ohne ironisches Bedenken »Musikerbiographie ohne Musik« betitelt - den Verfasser als »sicheren Soziologen und genauen Kenner und Liebhaber dieses eigenartig morbiden, reizvollen Stoffes«.7

Aber kaum jemand bemühte sich um jenen Stoff, aus dem Tonfilmoperetten sind - das gilt auch für die postumen Exegeten Siegfried Kracauers.8 Wohlgemerkt: Nicht bloß die verfilmte Operette, sondern vielmehr die »moderne Tonfilmoperette« ist gemeint, die von der zeitgenössischen Gegenwart ausging und hierfür Mittel zu einem eigenständigen Stil im Berlin der Jahre 1929 bis 1937 - mit seinen Boulevards, Cafés, Versuchungen und Unwahrscheinlichkeiten - ausformte.

Wohl lagen nach 1945 noch einige Jahrzehnte lang etliche Trümmer - soziale und bauliche - aufgehäuft. Doch Anstöße zu einer Morphologie des kulturellen Alltags, aus dem die Tonfilmoperette, ihre bildliche und musikalische Textur erwuchs, blieben vereinzelt. Und die ästhetischen Bestandteile jenes Alltags, deren künstlerische Funktion heutzutage von allumgreifender Medialisierung und Kommerzialisierung erledigt und zunehmend dem kollektiven Gedächtnis entrückt ist - z.B. Revuetheater oder Ballokale mit schallplattenberühmten Tanzorchestern in Filmszenen -, warfen selten genug die Frage nach deren Herkunft, ja einer womöglich in dieser Hinsicht operettenhaften großstädtischen Wirklichkeit auf. Nein, die Operette galt ja nicht als »wirklich«: Wie durften da gegenläufige Denkbewegungen produktiv werden, die auf das Dokumentarische zielen - bei anscheinend so wenig als Dokument des Alltags intendierten Filmen? Freilich: nicht als Dokument des gesamten berliner Alltags, sondern des berliner Boulevards. Denn ohne diesen Bezirk, seine kulturelle Physiognomie in jener Epoche, wäre die Filmgattung der Tonfilmoperette mitsamt den praktischen Bedingungen ihrer Entstehung und Produktion undenkbar.

Dieser Bezirk geriet vor der berliner Kulturkritik der 20er und frühen 30er Jahre in eine Zangenbewegung: Die linke Filmkritik z.B. verstand sich, wo sie Qualität erstrebte, als Gesellschaftskritik.
9 Sie hatte nur wenig ästhetische Wertschätzung für bürgerlich-mondäne Kulturphänomene übrig und war stets versucht, deren Dasein als »schönen Schein«, als Ablenkung von sozialer Realität und Krise zu entlarven; verändertes Bewußtsein sollte deren revolutionäre Beseitigung vorbereiten. Dabei verschwammen indes nicht selten modische Gebrauchsformen - wie jazzverwandte Musik und Tanz - bis zur Unkenntlichkeit hinter den anscheinend exakt arbeitenden Begriffen der Analysen.10

Ähnlich ideologisch eingeschränkt gegenüber den kontemporären Äußerungen jener »Welt, in der man sich nicht langweilt«, blieb die rechtskonservative und nationale Gegenseite. Sie witterte freilich weniger Ablenkungsstrategien des Kapitals als vielmehr geistige Konterbande der November-Revolution 1918: So warf der »Dolchstoß« noch lange seine Schatten, selbst auf Bubikopf, Girl-Revue oder Foxtrott. Und zum Schutz der solchermaßen bedrohten Kulturnation ging man - mit ihr als Kampfbegriff - erneut in Frontstellung; oft um eigenes Ressentiment gegen neue Strömungen zu verteidigen. Diese denunzierte der Chefredakteur des zur Hugenberg-Presse zählenden »Berliner Lokal-Anzeigers«, Friedrich Hussong, in seinen Artikeln und dann 1934 in seinem Buch »Kurfürstendamm. Zur Kulturgeschichte des Zwischenreichs« mit dem Schlagwort »Kulturbolschewismus«. Der Untertitel des Buches meint die damals so bezeichnete »Systemzeit«, also die Weimarer Republik, für die der Autor den Kurfürstendamm als Sinnbild par excellence sieht. Aber das Wort »Zwischenreich« eröffnet der Stadt zugleich eine zweite soziologische Dimension: Das Leben des Boulevards provozierte Geister, die politisch sich schieden. Er war umstrittenes Terrain - denen, die es nicht bewohnten. Aber für die, die hier lebten, lag es aus den gleichen Gründen - exterritorial.11

II.

Sammler sind Physiognomiker der Dingwelt.

Walter Benjamin: Das Passagen-Werk,
Aufzeichnungen und Materialien: Der Sammler

Kein Wunder, daß sich das Nachkriegsbewußtsein gegenüber der Vergangenheit des berliner Boulevards, seiner spezifischen Kultur und Kultiviertheit, seiner Relikte und Reflexe, in Deutschland - nunmehr geteilt, ohne kulturelles Zentrum, hie in ein föderales und dort in ein zentral gelenktes System gefügt - nicht eben unproblematisch in der Quellenlage spiegelt. Für die Rekonstruktion einer Physiognomie des berliner Boulevardlebens um 1930 kommen die Bestände institutionalisierter Bibliotheken kaum in Betracht: Die Bestimmung des Sammelnswerten setzte ideologische Positionen - gleichviel welcher Seite - nolens volens fort. Zudem leistete die Trennung von sogenannter »E«- und »U«-Kultur, bezeichnenderweise in der Nachkriegszeit als Terminologie etabliert, ein übriges. Erst in den letzten Jahren konnten vereinzelt Publikationen, etwa zur Geschichte des Varietés,12 die Lücken ein wenig verringern. Diese erschwerten Umstände im Umgang mit Archiven und Bibliotheken belasten besonders die Situation der historischen Jazz- und Populärmusikforschung in Deutschland. Ein erfahrener Publizist und Discograph gibt folgenden Erfahrungsbericht:
»Musikwissenschaftler beschäftigen sich - von Ausnahmen etwa an der Hochschule für Musik in Graz oder am Jazzinstitut Darmstadt abgesehen - nach wie vor nahezu ausschließlich mit der klassischen oder ernsten Musik. (…) Die Dokumentationslage ist ausgezeichnet. Sofern keine bislang unbekannten Dokumente auftauchen, beschäftigt sich die akademische Musikwissenschaft zumeist mit der subjektiven Neu-Interpretation von bereits bekannten Sachverhalten. (…) Im Gegensatz aber zu Bibliotheken sind ›Discotheken‹, in denen systematisch Tondokumente gesammelt und zum Studium zur Verfügung gestellt werden, praktisch unbekannt. Sie führen bestenfalls in den Hinterräumen einiger Bibliotheken ihr Aschenbrödel-Dasein. (…) Im Hinblick auf populäre oder leichte Musik haben Musikwissenschaftler immer noch Berührungsängste, empfinden sie wohl als zu ›leichtgewichtig‹. Die Quellenlage ist im Vergleich zur ernsten Musik unverhältnismäßig schlechter.«
13

Nicht nur mangelt den wenigen Arbeiten zumeist die »optische und akustische Autopsie von Tondokumenten, also die Discographie und die Analyse von Höreindrücken, die Discologie im engeren Sinne«14 - insbesondere galten für Archive und Bibliotheken etwa Aufnahmebücher von Plattenfirmen, Boulevardzeitschriften und -zeitungen, Rundfunk-Illustrierte oder Programmhefte von Tanzpalästen und Varietés nicht als bewahrungswürdig. Dieses Material liegt allerdings zumeist nur verstreut und in Privatsammlungen vor. Während die klassische Theaterwissenschaft über wichtige Sammlungen wie sogenannte »Theaterzettel« bis in das 18. Jahrhundert zurück verfügt, die aus privater Hand schon im letzten Jahrhundert in große Bibliotheken kamen,15 steht die Geschichtsschreibung der urbanen Alltagskultur noch im Stadium fortgesetzter Archäologie. Und nicht selten müssen die Flohmärkte das wöchentlich wechselnde Grabungsfeld für diese Archäologie des Alltags abgeben. Das birgt bei der Quellenbeschaffung zwar den Reiz von überraschenden Funden und Sensations-Entdeckungen, aber der tradierte Mangel eines entsprechenden Sammelbegriffs auf der Ebene institutionalisierter Archive wirkte langfristig doch retardierend auf die historische Rekonstruktion und den Erkenntnisgewinn in der Öffentlichkeit. Für jene kulturelle Mentalität der Vorkriegszeit besteht die Gefahr, daß die Lesbarkeit ihrer Zeichen, ihrer zeitgenössischen filmischen Konnotation, für den künftigen Betrachter sich weiter verringert. Denn auch hier gilt: Man sieht, was man weiß.

Es erstaunt daher nicht weiter, daß die Herausbildung eines kollektiven Gedächtnisses hier dementsprechend nur mühsam, lückenhaft oder - mit Hilfe von »Prothesen« - ahistorisch verläuft (ein Beipiel: Vilsmaiers Comedian Harmonists).
16 Es droht sogar eher zu schwinden mit jeder Generation, die nach dem Krieg geboren wurde. Immerhin markierte das Jahr 1945 nicht nur militärisch das Ende des Zweiten Weltkriegs auf beiden Erdhalbkugeln; denn nach dem Ende des Deutschen Reiches hatten die Ereignisse auf dem pazifischen Kriegsschauplatz das Atomzeitalters eingeleitet. Die Auflösung des britischen Empire hatte sich bereits seit längerem angekündigt und war durch den Krieg beschleunigt worden. Die sozialen Umschichtungen des Folgejahrzehnts samt der Heraufkunft neuer Massenmedien (wie des Fernsehens) konnten auch in Europa nicht ohne Auswirkungen auf die bisherigen Kulturformen bleiben.17

Und nicht nur in Berlin, aber vor allem hier mehr noch als anderswo, war unwiderruflich eine urbane Traditionslinie dahingeschwunden, die in das 19. Jahrhundert zurückreichte. Und nur aus jener gesellschaftlichen und kulturellen Kontinuität - wie gebrochen auch immer durch unterschiedliche Staatsformen vom Kaiserreich bis zum »Dritten Reich« - wird auch die musikalische Physiognomie jener Weltmetropole an der Spree faßlich, die nicht mehr existiert.

III.

Die Stadt ohne Schlaf hat man Berlin genannt. Berlin ersetzt Schlaf durch Musik. Wenn der Berliner erwacht, turnt er zur Rundfunkmusik. Wenn er um Mitternacht schlafen geht, dreht er noch einmal an seinem Apparat, ob er ein Konzert aus dem Londoner Savoy empfangen kann. Dazwischen hört er Musik am Grammophon, im Tonfilm, im Café. In Wien, in Paris, in London wird viel weniger Musik gemacht als in Berlin, wo der Violinschlüssel mehr gebraucht wird, als der Hausschlüssel.

Richard Tauber 1932,
in: Kennen Sie Berlin? - The Key To Berlin, Berlin 1932

»… aus dem Material des Alltagslebens«:
Kapelle Arno Berger bei Kroll (Festsaal), Ballveranstaltung am 16. Oktober 1931
»Boulevard« als Benennung von Kulturbedingung verweist auf die Pariser Operette. Aus Paris nahm sie ihren Weg - bereits mit den Konzertreisen Jacques Offenbachs - nach Wien. Dort an der Ringstraße gab ihr die k.u.k. Musiktradition einen durchaus anderen Resonanzboden als auf den Boulevards des Second Empire mit all ihren »Unwahrscheinlichkeiten«: Am Beispiel des Hofes Napoleons III. in den Tuilerien beschrieb Siegfried Kracauer urbildliche Züge aller späteren Operettenhöfe Offenbachs.18 Für Paris muß die Rolle der zeitgenössischen Tanzmusik - mit dem Cancan - in der dortigen Entwicklung der Operette hervorgehoben werden. An der Donau wirkte die Tradition des Wiener Walzers fort, mit dem Johann Strauß bald in umfangreichen Partituren vom Tanz- in den Konzertsaal strebte. Mit seiner »Fledermaus« setzte die Wiener Operette in einer Zeit des Höhenflugs ein, des wirtschaftlichen Aufstiegs des wiener Großbürgertums nach dem deutschen Sieg 1871. Der »Fledermaus« attestierten indes kritische Autoren aus Wien und Ostberlin - um ein Halbjahrhundert zeitlich getrennt - in sinngemäßer Übereinstimmung, daß sie »über ein sehr gutes Buch und eine Fülle reizender musikalischer Einfälle verfügt, aber über keine Atmosphäre und gar Weltanschauung, wodurch sie sich sowohl von Offenbach wie von Nestroy in einer weiten Distanz befindet«, so Egon Friedell.19 Und Otto Schneidereit resümiert: »Aus der Gesellschaftskritik bei Offenbach wurde bei Strauß bloße Spiegelung, eine Sittenschilderung, die ihren Höhepunkt in der ›Fledermaus‹ fand.«20

Von diesem Ast der Wiener Operette zweigten bald etliche Zeitgenossen und Epigonen ab, die Millöcker, Ziehrer, Zeller bis hin zu den jüngeren Fall und Lehár, so daß er - obschon nicht wirtschaftlich, so doch künstlerisch - ein absteigender wurde: Die Operette geriet kurz vor dem Ersten Weltkrieg zuweilen zur dreiaktigen Konfektionsware. Aber neue Strömungen brachten die leicht geschürzte Muse in Berlin, der dritten Station der Operette, zu ungeahnter Blüte; vor deren Inaugenscheinnahme mag noch ein Zitat Egon Friedells die Pariser Tradition Offenbachs gegen die Wiener setzen: »In diesen Werken, erlesenen Bijous einer komplizierten Luxuskunst, ist (…) der Duft der ville lumière zu einer starken haltbaren Essenz destilliert (…). Sie sind Persiflagen der Antike, des Mittelalters, der Gegenwart, aber eigentlich immer nur der Gegenwart und im Gegensatz zur Wiener Operette, die erst eine Generation später ihre Herrschaft antrat, gänzlich unkitschig, amoralisch, unsentimental, ohne alle kleinbürgerliche Melodramatik, vielmehr von einer rasanten Skepsis und exhibitionistischen Sensualität, ja geradezu nihilistisch. (…) Es ist daher ein Unfug, wenn man immer noch von ›Offenbach und Strauß‹ spricht.«21

Gleichwohl zeigt sich die Tonfilmoperette zunächst, in ihrer Anfangszeit um 1930, noch offen nach beiden Seiten jener Überlieferung: z.B. mit der urban-fidelen parodistischen Ironie von Die Drei von der Tankstelle und der in ungarischer Landschaft angesiedelten k.u.k. Sentimentalität der Melodie des Herzens (1929, Hanns Schwarz). Vor allem aber erreichte die Tradition das neue Genre nicht an den Geburtsstätten der klassischen Bühnenoperette, sondern in Berlin - und mit einer spezifischen Tendenz. Denn Berlin tendierte zum Boulevard: Die musikalische Gegenwart entwickelte sich in einem durchaus urbanen Raum, wie auch aus einem solchen Umkreis die Bedingungen zur Entstehung von Jacques Offenbachs Operetten hervorgegangen waren. Die Musik von Strauß aber gründet weitaus weniger auf diesem städtischen Grund: »Strauß' Werk war, im Gegensatz zu jener örtlichen Begrenzung, nach Herkunft und Charakter ein nationales, ein österreichisches. Nichts ist verkehrter, als in ihm ein ausschließlich wienerisches Produkt zu sehen.«22 Und die Metropole an der Spree, die selbst auf einen spezifischen Operetten-Stil vor dem Ersten Weltkrieg (mit Paul Lincke oder Victor Holländer) blicken konnte, vermittelte die Einflüsse der wiener und pariser Vergangenheit im Medium der eigenen fortschrittlichen Kultursituation an die moderne Tonfilmoperette weiter. Zumal mit der rasanten Heraufkunft der modernen technischen Massenmedien - Schallplatte und Radio - stand die Stadt im Zenit ihrer musikindustriellen Bedeutung für Kontinentaleuropa: Der Rundfunk nahm 1923 im VOX-Haus, Sitz der gleichnamigen Schallplattenmarke, seinen regelmäßigen Sendebetrieb auf. Bis zum Ende des Jahrzehnts konnte er sich dank ständig verbesserter Wiedergabetechnik, z.B. Einführung elektrodynamischer Lautsprecher, als klangstarkes Medium in das Alltagsleben einfügen. Die Schallplatte, deren Vergangenheit viel weiter zurückreicht, erlebte einen ähnlichen Aufschwung: 1926 war mit dem Übergang zum elektrischen Aufnahmeverfahren (Mikrofon statt Aufnahmetrichter mit mechanischer Membrane) der entscheidende Schritt zur lebenswahren Tonaufzeichnung vollzogen.23

So bevorzugt die Tonfilmoperette als Entwirklichung, ja als »Ufa«-Traum entlang einer - so die Prämisse - durch das Kapital des Hugenberg-Konzerns gesetzten Realität erörtert wurde, erscheint es merkwürdig, wie selten jene des berliner Theaters, seiner Musik- und Showbühnen, zum näheren Verständnis des Genres herangezogen wurde. Denn Anfang der 30er Jahre erlebte Berlin eine ungeahnte Operetten-Renaissance in glanzvollen Ausmaßen: Den Aufstieg der Gitta Alpar zum Tonfilm-Star begründete ihr rascher Ruhm auf der Operetten-Bühne.24 Im Admiralspalast war »Die Dubarry« mit der Ungarin in der Hauptrolle die Sensation der Saison 1931. Daß Gitta Alpar die alte Millöcker-Operette auf den Leib geschneidert schien, kam nicht von ungefähr: Das Werk hatte ein modernisiertes Gewand erhalten - in Buch und Musik. Letztere war von dem vielbeschäftigten Theo Mackeben vergleichsweise behutsam angemessen worden.25 Der im übrigen durchaus jazzorientierte Komponist besaß im Berlin jener Jahre gleich mehrere Funktionen: Bereits mit seinen Instrumentierungen für Brecht/Weills »Dreigroschenoper« bekannt geworden, arbeitete er von 1929 bis 1931 als Aufnahmeleiter der neu gegründeten Schallplattenfirma »Ultraphon« (der Vorgängerin der »Telefunken«-Platte), richtete dort Aufnahmen mit einer eigenen Hotdanceband und mit Stars wie Greta Keller und Curt Bois ein, schrieb Musik für die Bühne und - für den Tonfilm.

IV.

Hast Du schon Berlin bei Nacht geseh'n? / Mensch, Berlin bei Nacht ist wunderschön! / Pleite sind wir außerdem / trotzdem woll'n wir Bummeln geh'n / und uns 'mal Berlin bei Nacht beseh'n!
Tanzlokale, Kabarett - heute geh'n wir nicht in's Bett / Wozu bist Du denn sonst in Berlin? / Leuchtreklame an der Häuserfront / Und die Frauen sind hier so reizend blond / Hast Du's nicht geseh'n, dann kannst Du's nicht versteh'n / Drum mußt Du Dir Berlin bei Nacht beseh'n!

Marsch-Foxtrott 1932 (Text und Musik: Faber-Bremer),
Original-Aufnahme: Schallplatte »Brilliant« (Matr. Nr. 3156/Best. Nr. 80)

Der berliner Admiralspalast erlebte im Oktober 1930 eine spektakuläre Renaissance der Operette: Herman Haller, Theaterunternehmer und Schöpfer der nach ihm benannten Revuen, verlieh Kálmáns nicht mehr ganz jugendlicher »Czardasfürstin« neuen Schwung - und damit auch seinem hart umkämpften Business. An dieser Spielstätte ließ Haller zuvor seine opulenten Revuen inszenieren, die seinen und den Namen des Hauses als internatio-nales Markenzeichen verbreiteten. Was 1923 mit »Drunter und Drüber« begonnen hatte, ging nach alljährlichen Fortsetzungen 1928 mit »Schön und Schick« ins vorläufig unfreiwillige Finale: Haller war aufgrund baupolizeilich vorgeschriebener Renovierungs- und Umbauarbeiten vorübergehend zur Schließung gezwungen. Im Zuge der musikalischen Revolution des Jazz - von der künstlerischen Tanzmusik bis zur tänzerischen Kunstmusik - hatte die Revue nicht nur im Admiralspalast ihr Dasein ins Rauschhafte gesteigert; und zwar auf Kosten der Operette. Die aber erhielt von der Revue jetzt die Mittel zu neuem Leben: Herman Haller präsentierte in seiner »Czardasfürstin« mit viel Showmanship sogenannte Einlagen bzw. »Bühnenschauen«. Dem Kolorit der Kálmán-Operette entsprechend, spielte die von Schallplatte und populären Konzerten europaweit als »female Johann Strauß« beliebte wiener Violinvirtuosin Edith Lorand mit ihrem Herrenorchester als Intermezzo jeden Abend die erste Geige auf der Bühne;26 vor deren Rampe aber blieb für die musikalische Inszenierung ein Theaterorchester weiterhin obligat.

Zur gleichen Zeit, im Herbst 1930, glänzte das Große Schauspielhaus mit einer von Erik Charell eingerichteten Neuinszenierung von Blumenthals und Kadelburgs »Im weißen Rößl«, mit der Musik von Ralph Benatzky und Robert Stolz. Der ehemalige Ballett-Solist Charell zäumte das »Weiße Rößl« nicht nur mit revuehafter Choreografie auf. Er präsentierte erstklassige Kräfte des Sprech- und Musiktheaters sowie von Kabarett und Film: Max Hansen, Siegfried Arno, Otto Wallburg, Camilla Spira.27 Und wieder wurde die neu komponierte und mit zeitgemäßen Tanzmusik-Rhythmen durchwobene Musik - dem Charakter der Solonummern folgend - nicht nur vom sinfonisch geschulten Orchestergraben getragen: Für Jazzakzente sorgte auf der Bühne Friedel »Fred« Clement (aus Wien gebürtiger Spitzen-Trompeter der damaligen berliner Tanzmusik) mit einer sechsköpfigen Band.28 Er schrieb kurze Zeit später Instrumentationen für den Komponisten Paul Abraham und stellte eine ähnliche Formation für dessen Operette »Die Blume von Hawaii« zusammen,29 die im Folgejahr 1931 in Leipzig Premiere hatte und in Berlin im Metropol-Theater Triumphe feierte.

Die Praxis war insgesamt nicht neu: Erik Charell erprobte sie schon 1926, nachdem er auf Vorschlag von Max Reinhardt das Große Schauspielhaus übernommen hatte. Der vom Architekten Hans Poelzig in amphitheatralisch-expressionistischer Gestaltung ausgeführte Raum stellte mit seinen 3000 Plätzen wirtschaftlich entsprechende Anforderungen. Der Regisseur begegnete diesen zunächst mit einer damaligen Weltsensation, indem er den Begründer des »Symphonic Jazz«, Paul Whiteman (der 1924 mit seinem Orchester George Gershwins »Rhapsody in Blue« in New York uraufgeführt hatte), an mehreren Abenden in Berlin präsentierte.30 Bald darauf, im September 1926 eröffnete Charell seine Revue »Von Mund zu Mund«. Die Mitwirkenden, darunter das Schauspieler-Duo Wilhelm Bendow und Paul Morgan, die Kabarettistin Claire Waldoff, Curt Bois, eine junge Nachwuchskraft namens Marlene Dietrich, wurden in ihrem Erfolg nahezu überstrahlt vom jungen blonden Bernard Etté mit seinen Jazz-Symphonians. Dessen (auf über zwanzig Instrumentalisten verstärktes) Tanzorchester hatte Erik Charell als Starnummer (zu Beginn des zweiten Teils nach der Pause) plaziert und überdies die musikalische Gesamtleitung in die Hände des gefeierten Kapellmeisters gelegt. Sein Nimbus gründete auf zahlreichen Tanzplatten und Sendungen aus dem VOX-Haus. Herbert Ihering, neben Alfred Kerr einer der wichtigsten Kritiker des republikanischen Berlin,31 eröffnete seine Rezension im »Berliner Börsen-Courier« mit den Worten: »Als Bernard Etté mit seinem Jazz-Symphonie-Orchester auf der Bühne gespielt hatte, ging ein Beifall los, der minutenlang die Vorstellung unterbrach. Mit Recht. Hier war äußerste Präzision und individuelles Temperament, Kraft und Diskretion, Strenge und Laune. Hier war im musikalischen der Geist der Revue.«32

Die szenische Aufbereitung neuer jazzinspirierter Tanzmusik war in deren eigener Musizierauffassung, der Zurschaustellung ihrer Orchester, ihrer Freude an der optischen Verlebendigung angelegt.33 Dies trug dazu bei, daß eine erste Generation moderner Stars populärer Musik auch in Deutschland antrat,34 ausgehend von der Reichshauptstadt Berlin. Und wie hier die technische Medienentwicklung, zumal Schallplatte und Radio, mit der jährlichen Berliner Funkausstellung bald ein Forum mit bedeutender Breitenwirkung erhielt, das im Bild des gerade neu erbauten berliner Funkturms mit der Ikonografie der Stadt verschmolz, hinterließen Modetanz und Tanzorchester - als treibende Kräfte hinter dem Erfolg der großen Bälle und Showpaläste - entsprechende Symbolbilder insbesondere für das nächtliche Berlin und seine Vergnügungsindustrie: Das filmische Motiv der Leuchtreklamen, die sich - auch in der Großstadtfotografie jener Jahre bevorzugt 35 - im regennassen Asphalt spiegeln, über den der Großstadtverkehr brandet, wurde durch das blitzende Saxophon ergänzt. Als typisches Instrument der jugendlich empfundenen Jazz- und Tanzmusik wurde es zu ihrer Ikone - und blieb es bis heute.

Noch bevor die Tonspur diesen Szenarien zu einem eigenen akustisch-musikalischen Signal verhalf, begannen sie sich auf der stummen Leinwand zu formieren. So zeigt Ewald André Dupont in Varieté (1925) eine kurze Sequenz mit »Alex Hyde and his Orchestra«. Dieser deutsch-amerikanische Bandleader brachte als einer der ersten 1924 eine Hotdance-Besetzung aus New York nach Berlin. Sie stellt einen Meilenstein in der Historie des Jazz in Deutschland dar;36 ihr entstammten keymen der berliner Studiomusiker-Szene der 20er und 30er Jahre (wie der Gitarren- und Banjosolist Mike Danzi oder der Saxophonist Walter »Kal« Kallander).37 Zwar etablierte sich zeitgleich die preiswerte und bequemere Praxis, Statisten mit Instrumenten zu einer Band - insbesondere in Hintergrundsituationen - auszustaffieren, was sich im Tonfilm mit dem Verfahren der Playback-Aufnahme günstig fortsetzen ließ. Allerdings wurde diese Ausstattung gelegentlich von musikalisch ambitionierten Regisseuren bemängelt, und zwar mit dem Argument, daß eben professionelle Tanzmusiker eine lebendigere Ausstrahlung, ja einfach eine andere Körpersprache mitbrächten.38

Walther Ruttmann montierte 1927 in seinem Film Berlin, die Sinfonie der Großstadt, der chronologisch einem Tagesablauf folgt, das Finale zur Nacht nahezu ausschließlich aus dokumentarischen Aufnahmen von Tanz- und Vergnügungsstätten. Sie werden bei ihm Ausdruck und Selbstfeier der modernen Großstadt. Die Schnitte versammeln nicht zufällige Impressionen, sondern (in der Filmliteratur bisher nicht beschrieben) einen sinnfälligen Extrakt, ein historisches Signalement Berlins: Unter den Leuchtreklamen vom Potsdamer Platz erscheint auch kurz ein Schriftzug - »Bernard Etté auf Vox«. Nach einigen rasch wechselnden Szenen vom Tanzbetrieb in berliner Grand-Hotels tritt Etté selbst kurz in die Totale und im nächsten Bild dirigierend und geigend vor sein Orchester, dessen Takt in mehreren schnellen Gegenschnitten Charleston tanzende Beine beschreiben. Und das Schluß-Tableau des Ruttmann-Films zeigt einzig den Funkturm mit seinem kreisenden Lichtsignal.

V.

I was very fortunate to get to Berlin about the time the movie industry was switching from silent films to talkies, so I spent many long days at the UFA studios in Berlin-Neubabelsberg. (…) In all I worked 17 months at the Eden-Hotel with four different bands.

George F. Hirst (amerikanischer Jazztrompeter in Berlin, 1929-31)

He replaced Louis de Fries, who gave (Julian) Fuhs a lot of trouble. So when Fuhs asked me if I knew of an American trumpet player I said: yes and called George (F. Hirst) in Paris. Next day he arrived and in the afternoon was on the stand in the Eden-Hotel playing the new job.

Mike Danzi, in: Rainer E. Lotz: George F. Hirst. Menden 1982

Das Genre der Tonfilmoperette, formal und begrifflich mit fließenden Übergängen zur musikalischen Komödie (z.B. Einbrecher, 1930, Hanns Schwarz) oder zum Sängerfilm (z.B. Die grosse Attraktion, 1931, Max Reichmann), schöpfte freilich nicht mehr nur aus jenen mit dem Stummfilm bereits entwickelten Fundus urbaner Motive. Sie rücken in diesem Genre - verwandelt durch die neue technische und künstlerische Dimension des Tons - in eine zentrale Rolle für die musikalische Inszenierung: So werden vor allem jene mit Musik-, Tanz- und Gesangsdarbietungen verbundenen Sequenzen als filmische Topoi von immer wiederkehrenden typisch großstädtischen Orten der Vergnügungs- und Unterhaltungskultur in den Handlungsablauf eingeführt - soweit die Handlung in der damaligen Gegenwart spielt.

Treffpunkt Boulevard: »Königin-Bar« am Kurfürstendamm, 1934. Hinten v. l. n. r.: Bernard Etté, Oscar Joost, Hugo Fischer-Köppe, Trude Hesterberg, Adalbert Lutter, Otto Stenzel von der berliner »Scala«; vorn v. l. n. r.: George Boulanger, Unbekannter (vermutlich Chef der »Königin-Bar«), Eduard Duisberg (Direktor der »Scala«)
Zwar kennzeichnet gerade ein Musterbeispiel des Genres wie Die Drei von der Tankstelle, daß sich - in herkömmlicher Operettenüberlieferung - die Tanz- und Gesangsszenen an verschiedenen Schauplätzen des täglichen Lebens entwickeln. Aber auch in diesem Film kehrt die Handlung in das Tanz- und Nachtlokal ein - gestaltet sich ihr dramatischer und musikalischer Höhepunkt in dem Rendezvous der »Drei von der Tankstelle« mit der blonden »Frau am Steuer« (Lilian Harvey) und dem Titel-Slowfox »Liebling, mein Herz läßt Dich grüßen« (Werner Richard Heymann / Robert Gilbert).

Auf diese Weise eröffnen jene Szenarien, welche die Auflösung in Tanz und Musik vorantreiben, einen weitreichenden Subtext von jeweils aktuellen Mentalitäten und Unterhaltungsformen: Das zeigen auch die Produktionsformen der Filmmusik samt ihrer Visualisierung, je nach Musikrichtung. Bei der Tonaufnahme bewältigte der routinierte Orchestermusiker philharmonischer Prägung die Partituren der Illustrationsmusik vollauf, egal wie technisch anspruchsvoll ihr Notenbild ausfiel. Woher aber sollte er die Fähigkeit zu jazzgemäßer Phrasierung und Tonalität besitzen? Dieses Gebiet war nicht nur brandneu - es sollte auch noch lange Zeit dauern, bis sich ihm die Lehrpläne der Hochschulen öffneten. Die Einrichtung der »Jazzklasse am Hoch'schen Konservatorium« in Frankfurt weckte Ende der 20er Jahre kaum weniger Widerstand als entsprechende Bestrebungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Als Hochschule und Praxis auf dem Gebiet synkopierter Gebrauchsmusik dienten bald die großen Tanzorchester jener Zeit. Für jazz-beeinflußte Klänge wurden ihre prominenten Vertreter bevorzugt in das Ton-Studio geholt - und (falls nicht mit Statisten gearbeitet wurde) in das Filmbild.

Erst allmählich entwickelten sich bei den Filmfirmen selbst organisierte Formationen (z.B. »Ufa-Jazzorchester«).
39 Sie benötigten den neuen Typ des Studio- und Mikrofonmusikers: Er mußte nicht nur Erfahrung mit den technisch oft heiklen und enervierenden Umständen der Aufnahmen besitzen,40 auch mikrofongemäße Intonation gehörte dazu und möglichst Kenntnis des aktuellen Jazzidioms. Einige Komponisten griffen zur Umsetzung ihrer musikalischen Intentionen anfangs auf bestimmte Kapellen zurück (z.B. um 1930/31 Robert Stolz auf die Lewis Ruth Band) - später in der Swingära sogar auf bestimmte Solisten (z.B. Peter Kreuder auf die Saxophonisten Kurt Wege oder Franz Thon).41 Denn mittlerweile hatten sich für reine Studiozwecke Arbeitsgemeinschaften jazzorientierter Instrumentalisten gebildet. Und die absolvierten im übrigen nachmittags zum Tanztee und abends ihren täglichen Dienst in ebensolchen Lokalen, wie sie die Filmarchitektur stilisiert nachempfand. Nicht selten erwuchsen aus den Reihen jener Künstler auch führende Komponisten des jungen Tonfilms: der Pianist Franz Grothe ging aus dem Orchester Dajos Béla hervor. Als eine der in Deutschland führenden Schallplatten- und »Attraktionskapellen« - d.h. amerikanisch-jazzsinfonisches Bigbandformat - rangierte es um 1929 in der Spitzengruppe kontinentaler Unterhaltungskunst. Ebenfalls erlangte der in diesem Tanzorchester mit Banjo und Gitarre als Stammspieler der Rhythmusgruppe besetzte Harold M. Kirchstein in den 30er Jahren filmmusikalische Bedeutung als Komponist und Instrumentator.42 Daß diese für die Kultur des Boulevards wesentlichen Namen und Konnotationen heute im im einschlägigen Diskurs keinen adäquaten Raum einnehmen, ändert nichts an ihrer tatsächlicher Bedeutung.

Das von Dajos Béla geleitete Orchester - dessen Repertoire in damals üblicher Weise gleichermaßen gehobene Konzertmusik (Ouvertüren, Potpourris und Phantasien über Opern oder Operetten), argentinische Tangos und dem Black Bottom gemäße Broadway-Erfolge umfaßte - wird 1928 im populär gehaltenen Berlin-Reiseführer genannt, mit dem Eugen Szatmari die Piper-Reihe »Was nicht im ›Baedeker‹ steht« eröffnete. Es wird so Aushängeschild auch für das Interesse an neuen sozialen Schauplätzen der Stadt, wie dem Fünfuhr-Tanztee: »Im Adlon kann man um halb sechs bereits kaum noch einen Platz bekommen. (…) Dajos Béla, von den Lindströmplatten her wohlbekannt, dirigiert nach wie vor eine Schar von Tanzwütigen, die sich aus allen Gesellschaftskreisen rekrutieren. Da sieht man Prinzessin Joachim Albrecht mit einem spanischen Prinzen, den Kammersänger Richard Tauber (…), Schauspielerinnen und Damen vom Film. Durchreisende, die im Hotel wohnen, Ausländer - daneben (…) die unvermeidliche Halbwelt.«
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Seit den Inflationsjahren mit ihrer beginnenden Tanzbegeisterung aber wuchsen zunehmend derartige Unterhaltungsformen in eine zumindest urbane Vorstufe moderner Massenkultur hinein und machten Berlin sozialgeschichtlich zu einem »populär-musikalischen Laboratorium«; in ländlichen Regio-nen hingegen blieb der Besitz eines einfachen Grammophons noch seltener Luxus. Im Berlin jener Jahre erlebten die sogenannten Sonntagnachmittag-Tanzlokale, die zunehmend auch Dienstmädchen zu ihrem Publikum zählten, einen beträchtlichen Aufschwung. So ermöglichte zum Beispiel im riesenhaften Clou, Ballhaus des berliner Ostens,44 die Zahl der Besucher eine gewisse Güteklasse der Orchester, die um 1930 zwar nicht dem Society-Typus der Dajos Béla oder Barnabas von Gézy entsprachen, aber in gleicher Besetzungsstärke solide Tanzmusik intonierten. Sie verfügten über ein ähnliches Repertoire an Tanz- und Tonfilmschlagern. So wurden einige der hier typischen Bands, wie Gerhard Hoffmann, Egon Kaiser u.a., ebenso im Radio übertragen und fanden dank ihrer handwerklichen Qualität regelmäßig Verwendung in der Tonfilmarbeit.45

In den jeweiligen Szenen im Varieté- oder Tanzlokal-Milieu erlebten nicht nur typische Mode-Interieurs eine stilisierte, teils vereinfachende Nachahmung. Jene Gestaltungsmittel waren so naheliegend - buchstäblich räumlich-urban -, daß der Film auch sonst über die Integration von Tagesaktualitäten (ob Girl-Ballett, Betrieb in eleganten Nachtlokalen, Refrainsänger und Tanzorchester) nicht weit hinausging. So setzte der wiener Operetten-Schöpfer Emmerich Kálmán in seiner Ufa-Tonfilmoperette Ronny (1932, Reinhold Schünzel) Marek Weber mit seinem Orchester für die Tanztitel ein (z.B. den Slowfox »Du bis das Liebste«).46 Diese ehemalige Hauskapelle des Hotel Adlon findet sich ab 1929 bei den monatlichen Gastspielen des Dachgarten-Konzertcafés auf dem neu erbauten Kaufhaus der Rudolph Karstadt AG am Hermannplatz in Neukölln.47 Die Band von Carlo Minari in Bomben auf Monte Carlo (1931, Hanns Schwarz) wird aus einem Gastspiel im führenden Ballhaus Berlins, der Femina in der Nürnberger Straße, heraus engagiert. (Auf die Besonderheiten dieses Luxus-Ballrooms - hydraulisch heb- und senkbares Riesenparkett, zu öffnende gläserne Dachmitte, Tischrohrpost und Telephon - verzichteten die Filmarchitekten in den Studios leider auch künftig.) Das jazzsinfonisch besetzte Orchester des ungarischen Geigers Barnabas von Gézy - ehemals Konzertmeister der Budapester Oper - spielte Anfang der 30er Jahre die Tanzmusik in einem halben Dutzend Filmen - und täglich im Hotel Esplanade.

Heut kommt's drauf an (Kurt Gerron, 1932/33): Hans Albers und die Weintraub Syncopators
Den Wettkampf um das »Goldene Saxophon«, mit Radioübertragung im Berliner Rundfunk, ausgeschrieben von der Boulevard-Presse Berlins, dem »8-Uhr-Abendblatt«, gewann 1931 Dajos Béla.
48 In Heut kommt's drauf an (1932/33, Kurt Gerron) spielt Hans Albers als Hannes Eckmann den Bandleader eines Jazzorchesters, der von Hamburg mit seiner Band zur Teilnahme am Wettkampf ums »Goldene Saxophon« reist. Seine Band, die »Eckmann Boys«, werden von den echten Weintraub Syncopators dargestellt,49 der ehemaligen Band Friedrich Hollaenders, der auch Franz Wachsmann / Waxman entstammt. Das als Kontrast besetzte Damenorchester der Konkurrentin und schließlichen Braut von Hans Albers (Luise Rainer) gastierte tatsächlich als die »20 Wienerinnen von Mario Guido« im Januar-Programm 1933 des Welt-Varietés Wintergarten in der Dorotheenstraße.50

Gleichwohl spielten alle diese Bands nur selten auch die orchestrale Illustrationsmusik: Wie schon in den modernen berliner Operetten und Revuen verdrängten sie nicht, sie erweiterten vielmehr den Raum, die Partitur des Theaterorchesters. Im Gegensatz zu seinen Musikern waren jene Tanzorchester von den technischen Massenmedien bereits zu optischen oder musikalischen Extras erhoben. Und so traten sie denn - gemäß ihrer spezifischen Qualität von Sound und Szene - in den ästhetischen Zusammenhang.

VI.

Vom Fahrstuhl - auf den Barstuhl / Vom Barstuhl - in den Fahrstuhl / So spielt das große Leben im Hotel sich ab / Die Skala der Gerüche: vom Dachstuhl bis zur Küche / Die geben erst die schwere mondäne Atmosphäre / Die Frau muß darauf achten - und immer danach trachten / Daß sie bei einer Fahrt sich niemals irrt / Denn im Zwischenstock geniert sie sich / Und im dritten Stock verliert sie sich / So daß der Fahrstuhl zum Gefahrstuhl wird!

Musik: Rudolf Nelson/Text: Kurt Schwarbach, aus der »Eden-Revue: Es hat geklingelt«, 1932. Originalaufnahme: Ernst Verebes & Eva Busch. Schallplatte: Electrola E. G. 2668


Der Sieger (Hans Hinrich, Paul Martin, 1931/32): Käthe von Nagy, Hans Albers
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs begann das gesellschaftliche Dasein des städtischen berliner Bürgertums sich zusehens in die Öffentlichkeit zu verlagern. Und hier erreichte das Grandhotel als sozialer Schauplatz Bedeutung: In der Verschränkung von privater Sphäre, Internationalität und musikalisch-künstlerischen Ereignissen wurde es Bühne und Zuschauerraum. Wenn je Boulevard lebte - hier war er zu Hause.

»Das Privatleben des modernen Menschen ist überhaupt mehr und mehr in die Öffentlichkeit verlegt worden!«
51 So schreibt 1931 der »Führer durch das lasterhafte Berlin«. Und weiter: »Die Avantgarde der großen und der größeren Welt bevorzugt die durch den Glanz ihres Namens ausgezeichneten Nachmittagstees in den großen Hotelhallen.«52 Zumal deren überaus reichlich dimensioniertes Ausmaß »kennzeichnete das Grand Hotel alten Stils in Berlin«. Alle Treppenführung mündet an diesem Ort - und seine Mitte gliedert nicht selten eine große Freitreppe.53 Wohl kein Interieur urbaner Architektur verband sich so sichtbar mit der Geschichte des Bühnenbilds der Operette. Und als Treppen-Tableau wurde es zum »bedeutendsten Requisit der Ausstattungsrevue«,54 ausgehend von Paris, der musikalischen Heimat Offenbachs.55 Es begleitet denn auch wiederholt jene auf »high-life«, Ball und Stimmung akzentuierten Handlungen der Tonfilmoperette: Erst in diesem Ambiente wird im Ufa-Film Der Sieger (1931/32, Hans Hinrich, Paul Martin) Hans Albers, mit Käthe von Nagy an seiner Seite, dem Titel des Films wirklich gerecht. Als Sammelbild in Serien der Zigaretten-Bilder-Alben vielverbreitet, wurde es in den 30er Jahren zu einem der bekanntesten Motive des Schauspielers. Hierin erneuert sich eine Sozialfigur des 19. Jahrhunderts - und eine Ikone der Operette: der Bonvivant mit Frack, Chapeau claque und weißem Chemisett. Eugen Szatmari berichtete schon 1928 über das Hotel Eden in der Budapester Straße: »am Abend wimmelt es im Edenpavillon von Fracks und Abendkleidern«. Aber auch in der Saison um 1930 blieb dieser Aufzug auf den mittelständischen Bällen bei Kroll oder in den Zoo-Festsälen so vorherrschend, wie ihn heute kaum noch der Wiener Opernball zu zelebrieren vermag.

Den ersten Rang künstlerisch-musikalischer Bedeutung unter den berliner Grand-hotels hielt vom Ende der 20er bis in die frühen 40er Jahre, bevor es unter Bomben in Schutt sank, das Hotel Eden: Das lag nicht allein an seinem bestfrequentierten Tanztee im 1927 neu erbauten Dachgarten, »der nicht nur in Europa, sondern auch in Amerika seinesgleichen suchen dürfte«.
56 Selbst Robert Goffin, der Autor von »Aux frontières du Jazz« (einem der ersten Jazzbücher der Welt), begab sich 1931 »à l'Eden, ce fameux dancing du huitième étage où un ascenseur express vous jette dans les bras respecteux des larbins.«57 Das Hotel verstand sich darauf, international avancierte Bands zu engagieren. Im Frühjahr 1930 zog hier der Saxophonist Oskar Joost mit seinem Orchester ein. Im Lauf der frühen 30er Jahre wurde es zu einer der im Tonfilm meistbeschäftigten Bands.58

Der Altmeister der berliner Operette, Rudolf Nelson, eröffnete 1932 im Eden-Hotel seine letzte Kleinkunst-Bühne in Deutschland,59 bevor er 1933 in die Niederlande ins Exil ging. Und in der Bar des Hotel Eden spielte in jenen Jahren zeitweilig Walter Jurmann Klavier, der als Komponist von Tanztiteln und Filmmusik ab 1930 (Ihre Majestät die Liebe, Joe May) erfolgreich wurde. Nach seiner Emigration 1933 setzte er in Hollywood u.a. mit der Musik zu San Francisco (1936, W. S. Van Dyke II, D. W. Griffith) seine Karriere fort. Im Eden-Hotel lernte er auch den Texter Fritz Rotter kennen,60 der bereits Prominenz genoß mit seinem Tango-Erfolg »Ich küsse Ihre Hand, Madame« (im gleichnamigen Harry Liedtke-Film - 1928, Robert Land - von Richard Tauber nachsynchronisiert).

Bis in die frühen 40er Jahre, also noch über die Lebensdauer des eigentlichen Genres hinweg, verrät die Mehrzahl der mit zeitgenössischen Musik- oder Showszenen ausgestatteten Film-Szenarien realistische Mittel: Sie erweisen nicht nur all jenen Tanzbars und -lokalen oder Dachgärten von Grandhotels Reverenz - entsprechend ihrer wirklichen Bedeutung als Brennpunkte weltbürgerlich-boulevardesken Lebens, der Repräsentations- und Schaulust, der sozialen und erotischen Erwartungen. Als feststehende Schauplätze großstädtischer Milieus wuchs ihnen eine wichtige Rolle auch für andere Filmgenres wie Kriminalkomödie oder Varietéfilm zu. Vor allem aber in der modernen Tonfilmoperette gewannen sie symbolischen Wert: Mit den Revuen, den Girls, den Tanzlokalen und Orchestern visualisierten sich schlagartig die Bausteine des Erfolgs der Filmgattung und der neuen Operetten insgesamt. Hier gaben sich die ästhetischen Bedingungen ihrer Modernisierung dem Blick preis. Wo etwas wie Ausflucht anmutet - ist man zu sich gekommen. Hier war die Weltstadt, war Berlin - nach seinem Selbstverständnis - bei sich selbst eingekehrt. In jenen Details klingt sie auf - die »Sinfonie der Weltstadt«!


Dank an Stefan Steif und Walter Weist, Berlin.


Anmerkungen
MusikSpektakelFilm (CineGraph Buch)
Materialien
zum gleichnamigen filmhistorischen Kongreß (1997)
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