Reihe CineGraph Buch

Wolfgang Jacobsen, Heike Klapdor: Merhameh. Karl Mays schöne Spionin. Ein Dialog über die Autorin Marie Luise Droop
In: Jörg Schöning (Hg.): Triviale Tropen. Exotische Reise- und Abenteuerfilme aus Deutschland 1919 - 1939



Recherche 3: Kaiser Wilhelm und le bon sauvage. Geschichte im Gesichtslosen

B: Bon voyage!

A: Als Karl May 1912 starb, waren gut zwei Millionen Exemplare seiner Bücher verkauft, eine Zahl, die sich bis 1938 vervierfachte und bis Ende der 70er Jahre noch einmal versiebenfachte.

B: (vor sich hin) mal den Leserkoeffizienten 3,5 des französischen Literatursoziologen Robert Escarpit ergibt: ... (gemurmeltes Rechnen) ... 175 Millionen Leser!

A: "Was 20 Jahre sich erhält, und die Neigung des Volkes hat, das muß schon was sein." Goethe.

B: Karl Mays Publikum rekrutiert sich nur zum geringen Teil aus ,Jung-Volk'; Landwirte, Handwerker, Kleinhändler und die bürgerliche Intelligenz lesen seine Reiseromane aus einem tiefen Bedürfnis nach Sinnorientierung im Zeichen der ökonomischen Depression und politischen Desorientierung am Ende des 19. Jahrhunderts. "Materialismus" ist das Schimpfwort des ideologisch verunsicherten Mittelstandes, der sich gegen Kapitalismus, Liberalismus, Wissenschaft und Zivilisation, gegen Geld, Masse, Fortschritt und Großstadt, gegen die Moderne schlechthin versteift. Vor diesem Hintergrund wird der Entwurf einer idealisierten archaischen, vorindustriellen, nicht materialistischen und nicht politisierten Gesellschaft als ,Familie' verständlich, und so ist es naheliegend, wenn der Reformpädagoge Ludwig Gurlitt in seiner Verteidigungsschrift

A: "Gerechtigkeit für Karl May"!

B: den sächischen Kolporteur mit Paul de Lagarde und Julius Langbehns "Rembrandt als Erzieher" vergleicht:

A: "Man beachte, daß Karl May all die Kämpfe, die er in seinen Dichtungen zu bestehen hat, nie zur Erreichung eigener Vorteile auf sich nimmt oder zum materiellen Vorteil eines Deutschen. (...) Wir bekommen in seinen Büchern zwar oft unermeßliche Schätze zu sehen (...), aber wir lernen auch den Fluch kennen, der auf dem Golde ruht. (...) Was ist ihm Gold? Er würde wie der Rembrandt-Deutsche sagen: ,Gold ist Dreck'." 15

B: Naja. Old Shatterhand ist auch nicht frei vom Mammongeist der Weißen: Winnetou tot, das Testament vom Winde verweht und: "Mein Traum, mein Traum, mein Traum! Das Gold hinab in den Schlund!" 16

A: Bleibt als Trost ein Identifikationsangebot ...

B: "Old Shatterhand. Das bin ich!" 17

A: ... und eine imaginierte Welt. "May war eine Ein-Mann-Traumfabrik zu einer Zeit, die noch kein Kino, keinen Rundfunk und kein Fernsehen kannte, und er war sich seiner Funktion bewußt und stolz darauf": 18

B: "Die auf die Seite Geschobenen (...) sollen wenigstens lesen, daß das Glück, nach dem sie sich vergeblich sehnen, wirklich vorhanden ist. Das Leben bietet ihnen nur Arbeit, Mühe und Plage, weiter nichts. Die höheren Güter, die sie früher besaßen, hat man ihnen genommen. Der Glaube ist weg. Das Gottvertrauen verschwand. (...) Es gibt überhaupt kein Glück, weder oben im Himmel noch unten auf Erden. Oder dennoch? Wäre es möglich? Die Seele hält noch einen Rest von Hoffnung fest. Da kommt der Kolporteur. Er sagt: ,Ja, es gibt noch ein Glück (...) Ich bringe es Dir. Hier, lies!'" 19

A: Oskar Panizza hatte immer schon Kaiser Wilhelm I für den eigentlichen Autor gehalten.

B: Karl Mays Welt ist trotz aller vorgetragenen Authentizität des Geo- und Historiografischen ort- und zeitlos. Die Aventiuren der Artusritter und der "edelen herzen" im Wilden Westen liegen wie Folien übereinander. Parzival und Scharlih haben christlichen Segen auf ihrer sentimental journey, Xanten liegt in den "dark and bloody grounds":

A: Siegfrieds Balmung -

B: Old Shatterhands Henrystutzen,

A: der Kampf mit dem Drachen -

B: der Sieg über den Bären,

A: der Nibelungenhort -

B: der Schatz im Silbersee.

A: Nicht nur die lyrische Schönheit der höfischen Epen bleibt auf der Strecke. Die historischen Novellen -

B: "von keiner Sachkenntnis getrübt", 20

A: die Lieferungsromane -

B: "Kolportage elendster Sorte, von erschütternd geringem Wortschatz", 21

A: die Reiseromane -

B: "rohe eilfertige Erfindung aus Arabien oder Wildwest, wer zwei kennt, kennt alle. Man hat versucht, seine Landschaftsschilderung zu rühmen - dazu darf man allerdings nie etwas wirklich Gutes der Art gelesen haben." 22

A: Und selbst einer der ergebensten Knappen, der treue Studienrat Dr. Adolf Droop kam in seiner 1909 erschienenen "Analyse seiner Reiseerzählungen" nicht umhin festzustellen, daß der Maysche Humor ethisch "bedenklich", 23 die lyrischen Passagen "nicht eben erhaben" 24 und die Metaphorik "mißglückt" 25 sind.

B: "Die Beschreibung der Wüste ist aber auch eine undankbare Aufgabe! (...) An Stil denke ich dabei gar nicht. (...) Ich lasse mein Herz sprechen und schreiben und bin." 26

A: "Er kam in seiner Rede nicht weiter, denn ich richtete mich oben auf der Stufe empor, sprang herab und fiel ihm ins Wort." 27

B: Mit einem Wort, "die Produktion (von Karl Mays) ersten 60 Jahren ist eine quantité négliable". 28 Doch davon später.

A: Müssen wir Arno Schmidt widersprechen? Wir müssen. Der "Phantasielieferant für ein von der Monotonie des Alltagslebens gelangweiltes Publikum" 29 macht

B: "ihr kleines Zimmer durch Reisebeschreibungen recht groß und weit." 30

A: Und er kann es, denn das hat er nun wirklich selbst erlebt: "kleine Zimmer" zu bewohnen während seiner Gefängnisaufenthalte,

B: "in denen nur die Flucht in extremste, auch räumlich entlegenst lokalisierte Gedankenspiele ihm ein Überleben ermöglicht. Vollkommenheit, die ihm das Leben versagt, muß die Phantasie liefern. Zur Austarierung der Claustrophobie erzeugt er imaginäre Fluchtbewegungen durch weiteste Räume." 31

A: Erträumte Welten. Traumhafte Welten. Das Nie-Gesehene beschreiben ...

B: Was?! "Winnetou starb in meinen Armen!" 32

A: Später. - Die Vorstellungskraft als Lebenselixier verbindet den gealterten Hochstapler von eigenen Gnaden in Dresden mit einem jungen Mädchen. Und hier beginnt die Geschichte einer wunderbaren Freundschaft, die eigentlich eine Romanze war, literarischer als das Leben. Und ganz nebenbei auch ein Stück unbekannter Filmgeschichte aus den trivialen Jagdgründen des Weimarer Kinos. Denn was wird näher liegen, als im Kino, auf der Leinwand das Nie-Gesehene tatsächlich sichtbar und dennoch nicht wirklich werden zu lassen. - Rückblende.

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