FilmMaterialien 9 - Victor Trivas.

Kino als Kunst und Industrie

Victor Trivas im Gespräch mit Julien J. London

aus: Entretiens: Victor Trivas nous a parlé du cinéma-art et du cinéma-industrie. Ciné-Comoedia, Paris, Nr. 2138, 12.1.1933


In der Geschichte der 7. Kunst - denn das Kino, obschon es noch sehr jung ist, hat bereits seine Geschichte - scheint uns der Fall Victor Trivas einzigartig zu sein. Ein Versuch hat ausgereicht, um ihn bei den Massen durchzusetzen. Gestern noch war er unbekannt; heute ist er der Schöpfer von NIEMANDSLAND, einem der bemerkenswertesten Filme der letzten Jahre.

Unser Gastgeber empfängt uns gutgelaunt, mit einem schelmischem Blick und einem Lachen auf den Lippen, offenbar aufgelegt, uns eine lustige Geschichte zu erzählen. Herr Brailowsky, sein junger und treuer Assistent, erweist sich etwas reservierter und ernster. Aber der Schein trügt, wie sich übrigens im Laufe unseres Gesprächs herausstellt.

Wir beginnen unsere Befragung; instinktiv zitieren wir als Beispiel NIEMANDSLAND, jenen außergewöhnlichen Film, der sich, ohne die Persönlichkeit seines Schöpfers zu verraten, im wahrsten Sinne des Wortes als international erwiesen hat.

Nachdem er aufmerksam zugehört hat, entgegnet Trivas: »Ein wirklich humanes Thema hätte alle Chancen, einem Film einen internationalen Charakter zu geben. Eine andere Sache ist der in allen Sprachen verständliche Dialog; dieses Problem wird nur in besonderen Fällen, wie z.B. in NIEMANDSLAND, gelöst werden können.

Man könnte lange über die Filmwissenschaft rätseln. Die Filmwissenschaft existiert jedoch nicht. Es gibt nur eine Technik im Dienste unterschiedlicher Charaktere. Wer könnte in bezug auf die 7. Kunst fertige Rezepte geben? Der Einsatz der Aufnahmeapparate für Bild und Ton ist genauso elastisch wie derjenige der Syntax. Aber hat deren Kenntnis jemals ausgereicht, um literarische Meisterwerke hervorzubringen?

Zur Zeit schreibe ich ein Szenario nach dem Roman
DANS LES RUES von J. H. Rosny aîné; ich rechne damit, es recht bald zu verwirklichen. (...)

Im Kino ist es noch weniger als sonst möglich, von irgendwelchen Gewißheiten auszugehen. Alle Verantwortung liegt beim Regisseur. Und das ist richtig so. Von ihm allein hängt der Wert des Films ab: zuerst der künstlerische und dann der wirtschaftliche Wert. Die Zukunft eines in der Produktion befindlichen Films ist, trotz aller Trümpfe, die dem Filmemacher zur Verfügung gestellt werden (Kapital, erstklassige Schauspieler, erprobte Mitarbeiter und Techniker, usw.), im höchsten Maße ungewiß. Die Ursache dafür hat oft nichts mit künstlerischen Überlegungen zu tun. Es handelt sich um einen unendlich wichtigen Faktor, den niemand beeinflussen kann und der wiederum die Reaktionen des Publikums beeinflußt. Aber dieses Publikum ist eine unbekannte Größe; seine Reaktionen wechseln je nach den schwerwiegenden Ereignissen, die ihm im Kopf herumgehen: eine wirtschaftliche Krise, eine Naturkatastrophe, ein aufsehenerregendes Attentat, ein politischer Umsturz - kurz: jede wichtige Nachricht und so weiter kann die Aufnahme eines Films durch die Zuschauer verändern. Darüberhinaus ist der Zuschauer launenhaft, und das ist gut so, denn dadurch regt er jene an, die sich anstrengen, neue Wege zu gehen. In Frankreich ist überdies das Publikum am verständnisvollsten. Ein Volk, das
EMIL UND DIE DETEKTIVE und MÄDCHEN IN UNIFORM enthusiastisch empfängt, beweist sein Verständnis. Und wir andere werden durch eine solche Feststellung stimuliert.«

»Vorhin, als Sie die notwendigen Elemente aufzählten, die ein Regisseur braucht, um seine Arbeit gut zu Ende zu führen, haben Sie auch vom Kapital gesprochen. Glauben Sie, daß große Geldsummen unabdingbar sind?«

»Der künstlerische Wert des Films ist nicht von den eingesetzten Geldmitteln abhängig. Es gibt viele, die recht teuer waren, ohne dafür aber mit außergewöhnlichen ästhetischen Werten ausgestattet zu sein. Dagegen gibt es andere, die ein unbestreitbares Interesse aufwiesen, ohne daß sie die normalen Gestehungskosten überstiegen hätten. Geld reicht nicht aus, um ein Meisterwerk zu schaffen. Die für die Produktion zur Verfügung stehende Zeit spielt selbstverständlich eine entscheidende Rolle. Dennoch glaube ich, daß eine ausgewogene Organisation die Zusatzkosten minimieren kann; so kann die zusätzliche Zeit, die für die Fertigstellung eines überdurchschnittlichen Films nötig ist, ausgeglichen und nicht zu einer neuen Belastung werden. Übrigens sieht man häufiger, daß ein künstlerischer Film wirtschaftlichen Erfolg hat als ein qualitätsloser Streifen. Selbstverständlich darf der künstlerische Beitrag den bei jedem Film notwendigen populären Tugenden nicht schaden.«

»Glauben Sie, daß das Kino und die Filmmacher unter fehlender Unabhängigkeit leiden?«

»Ich kann mir kein unabhängiges Kino vorstellen. Film ist ein industrielles Produkt, das seinen Weg zu den Konsumenten finden muß. Für sie werden die Filme gemacht - sie müssen daher vor allem der Masse zugänglich sein. Falls nicht, so wurde das Ziel sowohl vom gesellschaftlichen als auch vom kommerziellen Gesichtspunkt aus verfehlt. Der Regisseur muß sich bemühen, die wirkliche Verbindung zwischen sich und dem Publikum zu finden. Verheerende Abhängigkeiten sind solche, die jede individuelle Inspiration abtöten und die einen Cineasten zwingen, nach Verfahren zu arbeiten, die für jedermann gelten, wie das in Deutschland der Fall ist. In Berlin kommen die meisten Produktionen von der Ufa. Da die Ufa als ein nationales Unternehmen angesehen werden kann, herrscht dort eine Disziplin, die ihre guten und ihre schlechten Seiten hat. Jedermann ist den gleichen Gesetzen unterworfen. Das Ergebnis können sie in ihren Filmen sehen. Vom technischen Standpunkt aus sind sie einwandfrei, aber man spürt ganz deutlich, daß es sich um eine rationelle Qualitätsnivellierung auf einer mittleren Ebene handelt, aus der man nicht ausbrechen kann. Es ist eine fast automatische Perfektion. Alles ist mechanisch ausgerichtet, auf daß die Regisseure und ihre Mitarbeiter weder ihre Zeit noch das Geld der Auftraggeber verschwenden. Man scheint dort zu vergessen, daß beim Film auch das Unvorhergesehene, die Inspiration und das Experiment eine Rolle spielen. Ein Studio mag vielleicht eine Fabrik sein, aber es ist auch ein Laboratorium. Leontine Sagan mußte auf eine unabhängige Firma zurückgreifen, um MÄDCHEN IN UNIFORM herausbringen zu können.

Im Gegensatz dazu gibt man in Frankreich die großen Unternehmungen auf. Das ermöglicht den Künstlern und dem Kino selbst eine glückliche Selbständigkeit. Übrigens wird Frankreich wieder mehr und mehr zur Heimat des Films. Einer der euren hat ihn erfunden, hier machte er seine ersten Schritte und man kann leicht feststellen, daß sich der Mittelpunkt des Kinos wieder nach und nach in Frankreich einrichtet.«

Konnten wir Victor Trivas nach Worten verlassen, die uns mehr aufgemuntert hätten? Sollte dieser lächelnde Regisseur ein einfacher Optimist oder doch eher ein Prophet sein? Einem Gemeinplatz zufolge ist niemand Prophet in seinem Lande. Hoffen wir für das Kino und für die Cineasten, daß Trivas in Frankreich zum Propheten wird.

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