FILMtext. Drehbücher klassischer deutscher Filme
Das Wachsfigurenkabinett. Drehbuch von Henrik Galeen zu Paul Lenis Film von 1923



Zum Dilemma des Filmdichters

Aus dem einleitenden Essay von Thomas Koebner


Das Drehbuch ist keine selbständige Kunstform, sondern - allgemein bezeichnet - oft erforderliche Voraussetzung für Filme mit inszenierter Handlung. Wenn man den Vergleich wagen will: Das Drehbuch bleibt häufig unbestimmter in seinen Direktiven, liefert weniger verbindliche "Aussagen" als eine Partitur, jedenfalls eine herkömmliche Partitur, die Substanz, Charakter und Ausführung eines Musikstücks genauer, unmißverständlicher festlegt, relativ geringen Spielraum für Interpretationen offenläßt. Das Drehbuch kann indes in Teilen - etwa in der Proportionierung der Szenen, in der Suggestion von Sehweisen - bestimmter und verbindlicher sein als ein Theaterstück, das durch verschiedene Aufführungen vielfältig verstanden und überformt wird. Das Drehbuch gibt einen Rahmen vor für die Arbeit der Produzenten, Regisseure und Schauspieler, Kameraleute und Ausstatter. Es entwirft, als vorläufiges und unvollständiges Modell, als Bildbeschreibung, die dem Bild vorangeht, Personen und eine Folge von Ereignissen, Verwicklungen und Vorgängen, auch Sätze eines Erzählers oder Dialoge. (...)

Veranschaulichung der inneren Handlung und Einfühlung in Personen und ihre Konflikte haben dem Drehbuchautor des Stummfilms zweifellos größeree Anstrengung abverlangt als Autoren, die später auf die hörbare Auskunft der Personen vertrauen können, auf eine elastischere und daher mitteilsamere Kameratechnik oder auch eine Erzählweise, die gewöhnt ist, Vorgänge in viele Einzeleinstellungen aufzulösen. Carl Mayer, einer der Autoren des CABINET DES DR. CALIGARI, seit der Konzeption von DER LETZTE MANN vor allem für Friedrich Wilhelm Murnau tätig, wollte ein expressionistisch, fast atemlos formuliertes Kontinuum der Bildvorstellungen, Prozeduren, Personenreaktionen beschwören. Ihm schein Henrik Galeen nachzustreben - weniger selbstbewußt als »Filmdichter« (um den Ausdruck der Zeit zu verwenden), seit GOLEM und NOSFERATU speziell im Horrorgenre erfahren. Obwohl diese zwei und andere Autoren der Stummfilmzeit unverkennbar ihren Anspruch behaupten, daß die Arbeit am Drehbuch Kunst sei - eben eine Spielart poetischer Schreibweise für neue Verwendungszwecke -, so viel sie auch in ihrem Drehbuch zu fixieren begehren, weite Gestaltungsbereiche werden von ihnen nicht berührt: Licht und Schatten einer Szene, Einstellungsgrößen und Distanzen zwischen Betrachter-Kamera und Figuren, das Spieltempo der Darsteller und ihre raumfüllende, blicklenkende Körperlichkeit and anderes, Regie und Kamera haben sich von Beginn an nicht fesseln lassen durch die theoretische Phantasie, die im Drehbuch Gestalt gewinnt. Bei Murnau etwa gleitet Nosferatus Schatten riesenhaft über die Wände - ein solch unheimlicher Effekt war von Galeen nicht vorgesehen. Oder: Paul Leni läßt im WACHSFIGURENKABINETT den Vezier nicht einfach zum Bäcker laufen, damit er den exekutiere. Die Hofschranze schleift erst einmal umständlich ihr Schwert an einem Stein, was ihrem martialisch gemeinten Auftritt zusätzlich etwas Kurios-Komisches verleiht. Die nicht nur hier gesuchte Betonung des clownshaft Drastischen, auch in der Verkörperung des Kalifen durch Emil Jannings, verstärkt - und verändert die Konzeption Galeens. Leni entzieht dieser Episode Angst und Schrecken, auch die im Drehbuch enthaltene Traumsequenz.


Das Wachsfigurenkabinett; Andere Bände der Reihe