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FILMText. Drehbücher klassischer deutscher Filme
Kameradschaft. Drehbuch von Vajda / Otten / Lampel zu G. W. Pabsts Film von 1931

Grenzverläufe der Kritik

Von Helga Belach und Wolfgang Jacobsen


Anfang der dreißiger Jahre. Berlin pulsierte. Aber es war nicht mehr das kreative Stakkato der zwanziger Jahre. Der Pulsschlag wurde hektischer; er flatterte. Erste Anzeichen politischer Agonie der Weimarer Republik zeigten sich. Berlin war der Seismograph - auf einer nach oben offenen Skala politischer, wirtschaftlicher, sozialer Unruhe. Die Zeichen und Menetekel wurden nicht von allen bemerkt. Und nicht alle wollten wahrhaben, daß die erste deutsche Republik in eine existenzbedrohende Krise geschlittert war. An demokratische Spielregeln kaum gewöhnt, belastet durch die Auswirkungen des Versailler Friedens, durch Kriegsschuldparagraph und Reparationsforderungen, und von Inflation und Wirtschaftskrise gebeutelt, wurde die Atmosphäre immer gespannter, vergifteter, anfällig für Schlagworte und Phrasen.

Der Sturz des Kabinetts Müller am 29. März 1930 war der Anfang vom Ende der parlamentarischen Republik. Die Außenpolitik Stresemanns war vom Gedanken des Ausgleichs mit Frankreich bestimmt, strebte eine Rückgewinnung der nationalen Machtstellung Deutschlands durch eine Revision des Versailler Vertrages an - auf dem Weg der Verhandlung und Verständigung. Dawes- und Young-Plan sollten ebenfalls zu einer Entspannung des deutsch-französischen Verhältnisses beitragen. Und Stresemann unterstützte auch Briands Plan zur Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa. Doch die Ressentiments gegen Frankreich, von nationalen und nationalistischen Stimmen immer wieder geschürt, verstummten nicht. Das Bürgertum zeigte sich zunehmend partei- und parlamentsmüde, unbedacht redete es einer 'vernünftigen' autoritären Lösung das Wort. Mit dem Kabinett Brüning, den Notverordnungen, die in Kraft traten, begann das letzte kurze schmerzlos-schmerzhafte Kapitel der Weimarer Republik.

In seinen Lebenserinnerungen schreibt Ludwig Marcuse über die drei ersten Jahre des vierten Jahrzehnts im 20. Jahrhundert: "Neunzehnhundertzweiunddreißig fand die letzte große Theater-Premiere der sterbenden Republik statt: Gerhart Hauptmanns 'Vor Sonnenuntergang'. Er gab ihren letzten drei Jahren den angemessenen Namen. Der Held des Stücks hatte vor dem Ende noch ein letztes großes Glück. Unsere Republik hatte nichts. Sie starb ohne Verklärung.

Was wußten die Völker von diesem Untergang, bevor er in den Nachrichten war? Was wußten die Deutschen? Nichts! Die, welche andauernd Weltgeschichte machen, und die, welche die täglichen Kämpfe mitfühlen, und die, welche an ihr einen Fortsetzungsroman haben, den sie mit Spannung verfolgen... sie alle zusammen sind immer noch erst ein kleines Häufchen. Die anderen merken nicht viel; oder erst, wenn sie gestört werden - und man ist es noch lange nicht, weil's in der Nebenstraße knallt." 1

Am 17. November 1931 hatte G. W. Pabsts Film KAMERADSCHAFT im Berliner Capitol Premiere; nur eine knappe Woche später, am 23. November, verurteilte der vierte Strafsenat des Reichsgerichts in Leipzig Carl von Ossietzky zu achtzehn Monaten Gefängnis. Die Fronten verliefen quer durch die Republik. Links und rechts waren klar geschieden; der Riß in der bürgerlichen Mitte deutete sich an. Die Liberalität der Anschauungen fand ihre Grenzen, nationalistische Schlichtheit übertönte die idealistische Verklärung. Oppositionelle Stimmen blieben zunehmend ohne Widerhall. Es gab die ersten Opfer eines neuen alten Weltgeistes. Propaganda tat ihre Wirkung. KAMERADSCHAFT war noch einmal ein Bekenntnis, ein pazifistisches, von der Völkerbundidee getragenes Plädoyer, das andere zur Stellungnahme trieb.

Die Kritiken zum Film sind wie ein Spiegel der gesellschaftlichen Orientierung und Desorientierung: klare Konfrontation zwischen rechtskonservativen Rezensenten und linkssozialistischen Kritikern. Die Autoren der bürgerlichen Presse haben eine Meinung; sie wägen ab, und selbst wenn sich eine Mehrheit für KAMERADSCHAFT ausspricht, so weniger aus politischen oder gar parteipolitischen Erwägungen als aus ästhetischen, meist humanistischen Beweggründen. Es gibt eine pazifistische und völkerversöhnende Grundstimmung, die nicht mehr laut genug wird.

Im Filmgeschäft reüssierten 1931 Komödien in militärischer Kostümierung wie Carl Boeses SCHRECKEN DER GARNISON (Uraufführung: 24. April) und Erich Schönfelders SCHÖN IST DIE MANÖVERZEIT (3. November), eskapistische Lustspiele wie Hanns Schwarz' BOMBEN AUF MONTE CARLO (31. August), glamouröse Filmoperetten wie Eric Charells DER KONGRESS TANZT (20. Oktober) und zunehmend nationale Epen: Heldengedenkfeiern à la DOUAUMONT (13. August) von Heinz Paul oder YORK (23. Dezember) von Gustav Ucicky. Die Ausnahmen von dieser Regel hießen: BERLIN-ALEXANDERPLATZ (Phil Jutzi, 8. Oktober), MÄDCHEN IN UNIFORM (Leontine Sagan, 28. November), NIEMANDSLAND (Victor Trivas, 10. Dezember) und DER HAUPTMANN VON KÖPENICK (Richard Oswald, 22. Dezember).

Die Uraufführung von KAMERADSCHAFT verlief erfolgreich, wenn der Film auch nur wenige Tage im Berliner Westen gespielt wurde und schon bald in Neukölln, einem Berliner Arbeiterbezirk, im Kinoprogramm zu finden war. In den Zeitungen der Hauptstadt, wie später auch in den regionalen Zeitungen bei weiteren Aufführungen in anderen deutschen Städten, fand der Film starke Beachtung. Nicht zuletzt deshalb, weil der Ausgangspunkt des Films, das Bergwerksunglück in Courrières und die uneigennützige Hilfeleistung der deutschen Kumpel für ihre französischen Kameraden, noch immer präsent waren bei denen, die an einer Aussöhnung mit dem europäischen Nachbarn interessiert waren. In der Fachpresse vor allem wird dieser Aspekt des Films noch vor seiner Uraufführung aufgegriffen.

Doppelter Mythos

Unter dem Titel "Morgen vor 25 Jahren und heute - Courrières / Film und Wirklichkeit" beschreibt Hans Taussig im "Reichsfilmblatt" vom 3. Oktober 1931 das Bergwerksunglück vom "4. Oktober 1906" - und erzählt weitgehend den Inhalt des Films, der zwar an dieses Unglück anknüpft, der sich jedoch - zumal der Stoff in die Gegenwart transponiert wurde - von der historischen Realität im engeren Sinn recht weit entfernt. Ein Werbetrick? Die Uraufführung des Films steht im November bevor, da kommt so ein Jahrestag doch gerade recht, oder man erfindet ihn.

Das Grubenunglück fand in Wirklichkeit am 10. März 1906 auf der Zeche der Compagnie de Courrières im nordfranzösischen Kohlerevier in der Nähe der Stadt Lens, unweit der belgischen Grenze, statt. 1400 Mann waren unter Tage, als eine gewaltige Explosion die gesamte Schachtanlage erschütterte. In dem Inferno aus Flammen, Giftgas, einstürzenden Grubenbauten und Wassereinbrüchen kamen 1099 Menschen ums Leben. Die Ursache der Katastrophe konnte nie völlig geklärt werden. In der Bevölkerung führte eine steigende Empörung gegen die Grubengesellschaft zu Streik und Unruhen. Ihr wurde vorgeworfen, die Erhaltung der Fördereinrichtungen sei ihr wichtiger gewesen als die Rettung der Bergleute. Zweifellos mangelte es an geeigneter Ausrüstung für die Rettungsarbeiten. Auf Initiative des Geschäftsführers des Vereins für bergbauliche Interessen im Oberbergamtsbezirk Dortmund (also des Unternehmerverbandes) brach am Abend des 11. März eine Gruppe von 25 Grubenwehrleuten von den Shamrock- und Rheinelbegruben unter Leitung des Bergwerkdirektors Georg Albrecht Meyer nach Frankreich auf.

"Warum zogen wir denn hinaus in das fremde Land und in eine fremde Grube? Eines trieb uns alle. Wir hatten etwa neun Jahre hindurch gelernt, unvermeidliche bergmännische Arbeiten in unatembaren Gasen zu verrichten. Wir hatten auf der Zeche Shamrock in Herne unter Mithilfe des später zum Weltunternehmen gewordenen Drägerwerks in Lübeck die Gerätschaften (Gastauchgeräte) entwickelt und ausgebaut und in unzähligen Versuchen probiert, welche es dem geübten Träger dieser Apparate ermöglichte, bei Sauerstoffnahrung in Giftgasen nicht nur zu leben, sondern auch zu arbeiten. (...) Wir wußten aufgrund dieser langjährigen Vorbereitungen, was wir konnten; ich wußte auch, daß dem französischen Bergbau eine solche Organisation nicht zur Verfügung stand. Was lag also näher, als auf die vom Bergbau-Verein Essen an mich gestellte Frage, ob wir den Franzosen helfen wollten, ohne weiteres mit 'Ja' zu beantworten.

An und für sich war die Anfrage des Bergbau-Vereins nichts Ungewöhnliches, da die Shamrock-Rettungstruppe schon bei verschiedenen, mit giftigen Gasen verbundenen Ereignissen im Bergbau auch auf größere Entfernungen zur Hilfe gerufen worden war. (...) Ich fragte nach Einholung der Genehmigung meiner Gesellschaft die gerade erreichbaren Mitglieder unserer Rettungstruppe, ob sie mit mir nach Frankreich gehen wollten, und fragte, wie immer, nicht vergeblich.

In dem Bergmannsfilm von der KAMERADSCHAFT begeistern sich die Bergleute aus sich heraus dafür, den französischen Kameraden Hilfe zu leisten, und suchen den geschniegelten Bergwerksdirektor mit der Bitte auf, mit den Apparaten der Bergwerksgesellschaft nach Frankreich eilen zu dürfen. Der Direktor erteilt nach einigen Verhandlungen huldvoll die Genehmigung und bleibt behaglich zu Hause. Damit der Film recht 'volkstümlich'; werde, wird der wirkliche Vorgang auf den Kopf gestellt." 2

Die deutsche Rettungsmannschaft konnte erst etwa 48 Stunden nach dem Unglück in die Grube einfahren. Überlebende fand sie nicht (und sie war wieder fort, als 20 Tage nach der Katastrophe eine Gruppe von 13 Bergleuten und wenig später ein weiterer Überlebender sich retteten). Trotzdem löste ihr Einsatz, dem indirekt wohl auch das Überleben der letzten Geretteten zu verdanken ist, eine Welle von Sympathie in der französischen Bevölkerung aus. Schon am 14. März schreibt der Sozialistenführer Jean Jaurès unter der Überschrift "Symbole" in der Zeitung "L'Humanité": Die deutschen Bergleute "sind in den Rachen des Todes hineingedrungen. Sie haben die Leichname heraufgebracht. Sie haben in der Gefahr, in dem Schmerz mit ihren französischen Brüdern Bruderschaft geschlossen. Sie haben ein neues Band der Zusammengehörigkeit zwischen französischen und deutschen Arbeitern geknüpft. Und jetzt mögen die Regierungen und Kapitalisten versuchen, die Bergleute aus Pas-de-Calais und die Bergleute aus Westfalen gegeneinander zu hetzen! Sie mögen versuchen, diesen brüderlichen Bund und den Schmerz, der sie einigt, zu zerbrechen! Diese Leute wollen ihr Leben füreinander hingeben, sie sind bereit, sich füreinander zu opfern. Auf die Trauer dieser französischen Bergleute, auf die Ehre dieser Katastrophe ist die erhabene Hoffnung von der weltumfassenden Solidarität gebaut. Welche verbrecherische Hand wagt es, diesen großen Traum zu zerstören." 3

In Deutschland kommentierte die "Vossische Zeitung" (deren späterer Chefredakteur Georg Bernhard nach dem Ersten Weltkrieg zu den Wortführern eines bürgerlichen Liberalismus und einer Verständigung mit Frankreich gehörte) ebenfalls am 14. März 1906: "Überhaupt, wenn es etwas gibt, was die Kluft zwischen verschiedenen Parteien überbrücken und die Kluft zwischen verschiedenen Ländern verwischen kann, so ist es das Unglück. (...) Und wenn es Franzosen sind, die in Courrières umgekommen sind, zittert darum unser Herz weniger erregt bei den Hiobsposten, krampft es sich weniger zusammen bei dem unsäglichen Jammer? Franzosen, ja Franzosen, also Menschen und Brüder, mit denen wir fühlen, mit denen wir klagen und denen wir jede Hilfe gönnen, die ihnen gebracht werden kann.

Die Bergwerksgesellschaft von Courrières hat in Westfalen um die Entsendung von Rettungskolonnen nachgesucht, die alsbald an Ort und Stelle eilten. Unerschrocken, todesmutig tauchen die Helden, mit den Rauchhelmen bewehrt, in die verpestete Tiefe, wo Feuer und Explosion oder grausige Verwesung ihnen winkt. Sie zeigen, daß es noch andere Gelegenheiten als den ritterlichen Zweikampf gibt, Tugend und Tapferkeit zu entwickeln. Sie zeigen auch, daß weder die gesunde Vaterlandsliebe noch der ungesunde Chauvinismus das natürliche Band zerreißen kann, das die Menschen mit einander verbindet." 4

1906 wurde Courrières zum Symbol der Völkerverständigung, zu einem Mythos. 1914, acht Jahre danach, wurde er begraben, 1931 durch Pabst erneuert und bekräftigt. Seine Absicht, "dem Film die Form einer Wochenschau zu geben" 5, ging auf: Der historische Stoff und der historische Mythos verschmolzen zu einer neuen Legende, zu einem neuen Mythos. Acht Jahre nach KAMERADSCHAFT zerbrach er aufs neue.

"Ein Regisseur ist ein Kampfmensch"

"Ein Stoff und hundert verschiedene Meinungen" überschreibt Hans Erdmann einen resümierenden Aufsatz zur Rezeption von Pabsts KAMERADSCHAFT im "Reichsfilmblatt" und konstatiert: "Wenn man zu der Kritik, die der Pabst-Film KAMERADSCHAFT bisher erhalten hat, Stellung nehmen will, so ist es gewissermaßen nötig, erst eine Art politischer Gewissenerforschung anzustellen, um nicht in völlige Verwirrtheit zu versinken. Es ist vielleicht auch nötig, sich gewisser, einfacher Grundsätze der Schul-Ethik wieder zu versichern, um unterscheiden zu können, was beispielsweise eine 'saubere Gesinnung' ist. Wir wollen trotz allem besagte Ethik als bekannt verhandeln, was aber die Politik anlangt...: wir sind keine Pazifisten, wenn man darunter Leute versteht, die an einen ewigen Frieden schlechthin glauben, sind aber praktisch davon überzeugt, daß die Zeit der europäischen Kriege aus dem Grunde vorüber sein müßte, weil schon der letzte Krieg in vollkommenster Sinnlosigkeit, dem Versailler Vertrag, endete, und weil nichts dafür spricht, daß daran, nämlich an der Sinnlosigkeit, auf kriegerischem Wege etwas geändert werden könnte, daß im Gegenteil auf diese Weise nur neue Fehler an Stelle der alten zu erwarten stehen. Und wenn man dann diese Überzeugung hat, und wir sehen nicht ein, wie man eine andere aus den geschichtlichen Tatsachen ablesen könnte, so halten wir den unbeirrbaren Versuch, eine europäische Politik zu treiben, für vernünftig und logisch, weil jede andere sich immer nur im Kreise drehen muß.

Was Frankreich angeht, so finden wir, daß es zwar im gegenwärtigen Zeitpunkte zu einer entscheidenden Rolle in der europäischen Politik berufen ist, daß es aber schlecht vorbereitet scheint, diese Rolle wirklich im europäischen Sinne zu spielen. Es hat geglaubt, 'seinen Krieg' gewonnen zu haben, und muß nun erleben, daß es mit dem 'gewinnen' nicht getan, daß Frankreich keine Insel der Südsee, sondern ein organischer Teil von Europa ist, daß die fünf Millionen deutscher Arbeitslosen keine böswillige Erfindung, sondern die Folge sinnloser Friedensverträge sind, die das europäische Wirtschaftsgebiet statt neu zu ordnen, im Gegenteil desorganisieren.

Solches und vieles andere wissen wir, und es gibt nur zwei Wege, den direkten der Verständigung und den indirekten, das europäische Chaos mit nachfolgender Verständigung derer, die übrig bleiben. Nun wird man leicht einsehen, daß dieser zweite Weg gar keiner ist, er ist nur ein Mangel an Vernunft, um den wir uns nicht zu bemühen brauchen, er wird sich notfalls schon von selbst finden." 6

Vor diesem Hintergrund sind die Kritiken zu KAMERADSCHAFT zu lesen. Sie repräsentieren beispielhaft eine zerrissene Gesellschaft, die die Aufführung eines Films zum Anlaß nimmt, eine politische Gefühlslage auszubreiten, einen inneren Zwiespalt, pendelnd zwischen pazifistischem Goodwill und nationalem Sentiment. Pabst, selbst ein Zerrissener, politisch so etwas wie ein links denkender Konservativer, beschreibt für sich diese Pole der - wie er meint - "revolutionären Kunstform" Film 1933 beispielhaft in seinem Aufsatz "Film und Gesinnung": "Ein Regisseur ist ein Kampfmensch. Wenn er kein Handwerker ist, der Filme nur auf Befehl macht, um sein Brot zu verdienen, sondern wenn er den Film gleichsam für heilig ansieht, (...) dann wird er durch den Film seine Ideen dem Publikum suggerieren, einhämmern können - wie ein politischer Journalist es in seinen Artikeln tut." Und: "Soll der Film stets soziale Probleme behandeln, ein Propagandamittel bleiben, wie er es meist in Sowjetrußland ist? Keinesfalls. Der Film soll wohl über soziale Probleme aufklären, und dadurch die Bildung und die Kultur der Massen fördern. Er soll aber auch aus dem Leben die erfreulichen Symptome in künstlerischer Form zeigen." 8 In diesem Sinne ist KAMERADSCHAFT einerseits ein politischer Film, der die Kraft der Erinnerung an die Grenzüberschreitung in Courrières in Opposition zu Versailles und seinen Folgen setzt, andererseits aber auch ein Unterhaltungsfilm, der Genremuster nutzt und komödiantische Zwischentöne nicht scheut. Dieses "Sowohl-als-auch" wird dem Film von manchen Rezensenten vorgehalten oder entweder das "sowohl" oder das "als auch".

Von Schwarz bis Rot

Frank Maraun alias Erwin Goelz eröffnete am 18. November den Reigen der Premierenkritiken mit einer Polemik in der rechtskonservativen "Deutschen Allgemeinen Zeitung", die nie den Ruch loswurde, das Hausorgan von Hugo Stinnes zu sein: Der Film sei, so heißt es, "zur höheren Gruselei des eifrig klatschenden Pelzparketts inszeniert", er spekuliere - in der Drastik des gezeigten Unglücks - auf eine "Solidarität des Helfenwollens" und sei von "tagespolitischem Verständigungspathos" getragen, fragwürdig "angesichts der 2800 Flugzeuge, die Frankreich bereithält, während es zugleich Deutschland, die Flugabwehrgeschütze verbietet" 9. Argumente, die er in einer ausführlichen Besprechung am 19. November noch ausführt, die sich aber auch in Varianten der Formulierung in anderen Kritiken der rechten Presse wiederfinden. In der "Neuen Preußischen (Kreuz-)Zeitung" etwa, republikfeindlich, deutschnational und der DNVP nahestehend, wird dem Film "tendenziöse Gewolltheit" vorgeworfen, und man leistet sich auch einen Ausfall gegen die demokratische und liberale, von Theodor Wolff geleitetete Mosse-Zeitung "Berliner Tageblatt": "Schlußapotheose: nach kurzer Reklame für das 'Berliner Tageblatt' (natürlich!) erfolgten zwischen Schwarz-rot-gold und Trikolore Erklärungen frei nach Briand." 10

Geradezu typisch für eine unsichere, verunsicherte Haltung diesem Film gegenüber ist die anonyme, aber wohl von Charlotte Demmig verfaßte Kritik in "Der Gral", einer Monatszeitschrift für katholische Kunst, Literatur und Politik, die in der Beurteilung laviert zwischen dem Anerkennen einer "ehrlichen Absicht", dem Verurteilen einer "marktschreierischen Reklame", die den Film als "pazifistischen Propagandafilm" annonciert und fast Abscheu äußert gegenüber den ungeschönten Bildern des Unglücks und sich fragt, "ob eine derartige Maßlosigkeit in der Darstellung des Grauens nicht vielleicht doch über die Grenzen und Regeln einer wahren Kunst hinausgeht" 11. Über diese Einwände hinweg gehen auf der rechten Seite nur noch die perfiden Kritiken der nationalsozialistischen Blätter. In "Der Angriff", dem zeitweise von Joseph Goebbels herausgegebenen Kampf- und Hetzblatt der NSDAP, schreibt der nichtgenannte Autor - zu vermuten ist, daß Peter Hagen alias Willi Krause, später erster Reichsfilmdramaturg, für die Kritik verantwortlich zeichnet -, der Film repräsentiere eine "kümmerliche Privatmeinung", lobt aber die Realistik der Darstellung, mokiert sich über Stimmen, die diese Realistik ablehnen, eine Meinung, die gerade von konservativen Rezensenten vertreten wird, und sucht mit gespenstischem Kalkül, "sich mit rechter Hand linker Energien zu bedienen", wie Karsten Witte einmal über die nationalsozialistische Filmpolitik geschrieben hat. "Mit wenigen Strichen könnte man diesen Film zu einem Denkmal der Arbeit und der selbstverständlichen Hilfsbereitschaft machen." 12 Unter der Überschrift "Paneuropa im Film" veröffentlicht Wolf Hort im "Völkischen Beobachter" eine vulgäre und perfide Kritik des Films, die von "Volksbenebelung" und "Charakterlosigkeit" schwafelt, die Herausgeber und Redakteur der "Lichtbild-Bühne" denunziert, rassistisch und antisemitisch gegen den Produktionsleiter des Films, Wilhelm Löwenberg, Stellung nimmt und einen der Autoren des Films, Peter Martin Lampel, als "Schädling" beschimpft. 13

Die Kritiker der großen bürgerlichen Berliner Zeitungen bewerten den Film - mit Abstufungen - positiv. Und abgesehen von dieser Grundhaltung ist in ihren Beiträgen immer noch eine lebendige, literarisch versierte Intellektualität zu spüren, die Filmkritik als eine Form der literarischen Kritik ernst nimmt, sprachlich brillant, mit der Lust an pointiertem Formulieren, die dem oft biederen Gestus der parteipolitisch gefärbten Kritik konträr gegenübersteht. In der "Vossischen Zeitung", einer bürgerlich-liberalen "Institution", schreibt Ludwig Marcuse, human und humanistisch argumentierend, daß dieser Film "bitter nötig" gewesen sei, selbst wenn er anmerkt, daß der Film an manchen Stellen nachdrücklicher hätte argumentieren sollen. Die intellektuelle Moralität und Integrität seiner Argumente ist logisch und überzeugend. Marcuse will dem Film gerecht werden, will mit seiner Kritik die aufklärerische Wirkung des Films verstärken, indem er eine Frage als offen bezeichnet: "die Frage, ob ein Bergwerksunglück eine Naturkatastrophe ist, wie ein Erdbeben, oder eine tilgbare Menschenschuld. Vielleicht darf man heute darauf keine Antwort geben - aber hätte nicht wenigstens ganz bescheiden die Frage gestellt werden dürfen, damit das Publikum nach dem Filmende dieser Frage weiter nachdenkt??" 14 Auch Kurt Pinthus im liberaldemokratischen "8 Uhr-Abendblatt" benennt in seiner typischen Diktion der sprachlichen Steigerung und Emphase die Qualitäten des Films; seine Kritik erwächst vielleicht am stärksten aus einer Betrachtung und Würdigung filmästhetischer Komponenten. Pinthus stellt aber auch den Zusammenhang mit anderen Filmen her, die in dieser Zeit in den Berliner Kinos Premiere haben, "Militärfilme" und "historische Verlogenheitsfilme" 15. Eher politisch argumentiert Herbert Ihering im "Berliner Börsen-Courier" (rechtskonservativ und national in der politischen Redaktion, liberal im für die Weimarer Zeit prägenden Feuilleton), wenn er den Film als "im außenpolitischen Sinne" prägend für die deutsch-französische Versöhnung ansieht. Hermann Sinsheimers Reaktion im "Berliner Tageblatt" ist eher theatral, wenn er von einem "Epos des Kumpellebens und Kumpelleidens" schreibt, von einem "hohen Lied auf die Arbeit und ihren verbrüdernden Sinn" 16. Siegfried Kracauers Kritik in der "Frankfurter Zeitung" ist - ähnlich wie die Marcuses, wenn auch aus anderem Blickwinkel - eine Besprechung, die den historischen Zusammenhängen nachspürt und sie in die aktuellen Fragen einbindet, auch mit einer großen Aufmerksamkeit für die Leistung von Pabst, den er einen "glänzend begabten Regisseur" 17 nennt.

Auch die Boulevardzeitungen im weitesten Sinne besprechen KAMERADSCHAFT mit großem Verständnis: Konrad Glück in der "Berliner Morgenpost", einem demokratisch orientierten populären Massenblatt aus dem Hause Ullstein, betont den völkerverbindenden Gedanken des Films 18, Georg F. Salmony in der "B.Z.am Mittag", ebenfalls eine Ullstein-Zeitung, bewundert die "moralische Qualität" 19, Manfred Georg im "Tempo", einem illustrierten Spätnachmittags- und Abendblatt im amerikanischen Stil, interpretiert den Film gar als ein "letztes Aufglühen von Gesinnung und Gesittung vor dem Untergang" 20, während Walter Steinthal im republikanisch-demokratischen "Das 12 Uhr-Blatt" aufmerksam einen politischen Stimmungsumschwung registriert: "Es gab bei der Uraufführung starken Beifall, aber die Jubelstürme, mit denen Fridericus oder der Bressartkaserne aufgewartet wird, waren es nicht." 21 In diesen Kanon fügen sich die Kritiken von Erich Kästner in der "Neuen Leipziger Zeitung" 22 und Hans Feld im Filmfachblatt "Film-Kurier" 23.

Felix Scherrets Besprechung im sozialdemokratischen "Vorwärts" könnte man für diese dem Film gegenüber wohlwollende Haltung noch reklamieren. Seine Frage: "Wann endet der Irrsinn dieser Zeit?" 24 markiert aber auch die Schnittstelle zur linken, sozialistischen Kritik, die ähnlich wie die rechte Presse eher gegen den Film polemisiert. Polemik deshalb, weil er den Autoren in seiner Grundhaltung nicht radikal genug ist. Auffällig, daß sich fast alle Rezensenten an dem Begriff "Kameradschaft" reiben und ihn gerne durch "Solidarität" ersetzt sähen. Mersus schreibt in der zum Münzenberg-Konzern gehörenden "Berlin am Morgen", einer Zeitung mit flexiblem aufklärerischem Impetus, daß es kein Zufall sei, daß der Film KAMERADSCHAFT und nicht "Solidarität" heiße und daß in einer Rede eines französischen Kumpel nach der Rettung von dem gemeinsamen Feind Gas und Feuer gesprochen werde, nicht aber vom Kapital, "da sei Gott, die Zensur und der Völkerbund vor" 25. Weiter geht die Kritik von Heinz Lüdecke in der kommunistischen "Roten Fahne", der statt "Kameradschaft" "proletarische Solidarität" einfordert und die "verschwommen pazifistische Tendenz" 26 beklagt. Ähnlich zurückhaltend und kritisch sind auch die Besprechungen in der "Arbeiter Illustrierte Zeitung", in der der Film immerhin als "bester Film, den die bürgerliche Filmindustrie je gewagt hat" 27, beschrieben wird, wie auch Hermann Hiebers kritische Notiz in der "Sozialistischen Bildung" den Mangel an "klassenkämpferischem Charakter" 28 bemängelt.

G. W. Pabsts Film KAMERADSCHAFT war ein filmisches Ereignis in der Weimarer Republik. Das Grubenunglück in Courrières steht als Metapher der deutsch-französischen Beziehungen für eine begrenzte Grenzenlosigkeit. Noch einmal wurde die humanistische Grundidee formuliert. Aber zu unbestimmt waren die linken Visionen, zu anfällig für Doktrin, und zu schwach war das bürgerliche Ideal geworden. Blutig obsiegte die braune Reaktion. Kameradschaft war nur mehr eine hohle Phrase.

  1. Ludwig Marcuse: Mein zwanzigstes Jahrhundert. Zürich: Diogenes 1975, S. 125.
  2. Protest gegen einen "Tatsachenfilm". Leserbrief von Dr. ing. e.h. G. A. Meyer. In: Berliner Börsen-Courier, Nr. 588, 19.12.1931.
  3. Jean Jaurès: Symbole. In: L'Humanité, 14.3.1906; zitiert nach: Hermann Barth, Ulrich Grober, Karl Kels, Eckhard Schleifer: Kameradschaft. Materialband. Frankfurt/Main: Arbeitsgruppe für kommunale Filmarbeit e.V. 1992, S. 7. Dort auch ausführliche Darstellung der historischen Vorgänge.
  4. Vossische Zeitung, 14.3.1906.
  5. G. W. Pabst: Über zwei meiner Filme. Filmkunst, Wien, Jahresband 1960, S. 22.
  6. Pour Vous, Nr. 149, 24.9.1931.
  7. Hans Erdmann: Ein Stoff und hundert verschiedene Meinungen. In: Reichsfilmblatt, Nr. 48, 28.11.1931.
  8. G. W. Pabst: Film und Gesinnung. In: Felix Henseleit (Hg.): Der Film und seine Welt. Reichsfilmblatt-Almanach 1933. Berlin: Photokino 1933, S. 98-99.
  9. -ma. (Frank Maraun = Erwin Goelz) in: Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 533, 18.11.1931.
  10. th. in: Neue Preussische (Kreuz-)Zeitung, Nr. 323, 19.11.1931.
  11. anon. (Charlotte Deming ?) in: Der Gral, Nr. 4, Januar 1932.
  12. anon. (Peter Hagen = Willi Krause ?) in: Der Angriff, Nr. 212, 20.11.1931.
  13. Wolf Hort in: Völkischer Beobachter, Bayernausgabe, München, Nr. 355, 1.12.1931.
  14. Ludwig Marcuse in: Vossische Zeitung, Nr. 544, 18.11.1931.
  15. Kurt Pinthus in: 8 Uhr-Abendblatt/National-Zeitung, Nr. 270. 19.11.1931.
  16. Herbert Ihering in: Berliner Börsen-Courier, Nr. 540, 19.11.1931.
  17. S(iegfried) Kracauer in: Frankfurter Zeitung, Nr. 866-867, 21.11.1931.
  18. K(onrad) Glück in: Berliner Morgenpost, Nr. 276, 19.11.1931.
  19. G(eorg) F. Salmony in: B.Z. am Mittag, Nr. 270, 19.11.1931.
  20. Manfred Georg in: Tempo, Nr. 270, 19.11.1931.
  21. Walter Steinthal in: Das 12 Uhr-Blatt, Nr. 271, 19.11.1931.
  22. Erich Kästner in: Neue Leipziger Zeitung, Nr. 331, 27.11.1931.
  23. Hans Feld in: Film-Kurier, Nr. 271, 19.11.1931.
  24. F. Sch. (Felix Scherret) in: Vorwärts, Nr. 542, 19.11.1931.
  25. Mersus in: Berlin am Morgen, Nr. 271, 20.11.1931.
  26. Heinz Lüdecke in: Rote Fahne, Nr. 216, 26.11.1931.
  27. L. K. in Arbeiter Illustrierte Zeitung (AIZ), Nr. 49, Dezember 1931.
  28. H. H. (Hermann Hieber) in: Sozialistische Bildung, Nr. 9, Dezember 1931.


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