3 x Nebenzahl. Materialien zum 14. Internationalen Filmhistorischen Kongreß, Hamburg, 15. - 18. November 2001.

Seymour Nebenzahl: Leichtfertiges Urteil (1930)


Offener Brief an Kommerzienrat Scheer

Sehr geehrter Herr Kommerzienrat Scheer!

Der Presse entnehme ich, daß Sie in der Hamburger Tagung [des Reichsverbandes Deutscher Lichtspieltheaterbesitzer] eine außerordentlich scharfe Rede gegen die Vertonfilmung ungeeigneter Stoffe gehalten und die Theaterleiter aufgefordert haben, Filme mit "entsittlichender Handlung" nicht aufzuführen, und zwar richtet sich Ihr besonderer Zorn gegen die "Dreigroschenoper". Unterstützt haben Sie Ihre Meinung angeblich durch Vortrag eines "Songs" aus diesem Werk. Mit solchen Filmen, sollen Sie weiterhin gesagt haben, könne sich Deutschland keine Weltgeltung verschaffen.

Ich muß gestehen, daß ich von Ihren Ausführungen mit nicht geringer Verblüffung Kenntnis genommen habe. 
Wir, die wir an der Verfilmung der "Dreigroschenoper" arbeiten, glaubten, nicht nur vor einer ungewöhnlich schwierigen Aufgabe zu stehen, sondern wir Ahnungslosen waren auch der Meinung, gerade durch die Verfilmung dieses Werkes an der Erreichung des von Ihnen abgeleugneten Zweckes mitzuwirken. Nun müssen wir durch Sie erfahren, daß wir einen Film mit "entsittlichender Handlung" herstellen, vor dem öffentliche Warnung am Platze ist.
Wie aber haben Sie sich, sehr geehrter Herr Kommerzienrat, Ihr Urteil gebildet? Haben Sie jemals die "Dreigroschenoper" gesehen oder das Buch gelesen? Vermutlich nicht, denn sonst müßte man Ihre Ausführungen auf eine absolute Verständnislosigkeit zurückführen, wie sie viele hunderttausend deutsche Theaterbesucher offensichtlich nicht gezeigt haben.
Alsdann bleibt nur die Möglichkeit, daß Sie trotz Kenntnis und Verständnisses den gesamten Stoff verkannt haben - dann müßte man Ihnen Böswilligkeit unterstellen, und daran mag ich noch viel weniger zu glauben.

Oder aber, es hat Ihnen jemand eine Strophe aus der "Dreigroschenoper", aus jedem Zusammenhang herausgerissen, in die Hand gedrückt, und Sie haben ohne Prüfung und Kenntnis des Gesamtwerkes Ihre Brandrede gehalten - dann waren Sie sehr leichtfertig.
Vermutlich wissen Sie nicht, daß die "Dreigroschenoper" ein nach Ansicht maßgeblicher Leute künstlerisches Werk und einer der größten europäischen Bühnenerfolge ist, das in über hundertfünfzig europäischen Städten aufgeführt wurde.
Unbekannt dürfte Ihnen auch sein, daß der Verfasser der "Dreigroschenoper" einer der bemerkenswertesten Repräsentanten der jungen deutschen Literatur und deren Komponist ein anerkannter Musikautor ist.

Unbekannt dürfte Ihnen weiterhin sein, daß die "Dreigroschenoper" die Beabeitung eines aus dem 18. Jahrhundert stammenden klassischen Werkes von John Gay "The Beggar's Opera" ist, das bis zum heutigen Tage in England immer wieder aufgeführt wurde.
Bewundernswert ist der Mut, mit dem Sie ein Werk in Grund und Boden verdammen, von dem Sie vermutlich nur ein Lied wissen und von dessen filmischer Durchführung Ihnen nicht das geringste bekannt ist.

Ich bin im übrigen überzeugt, daß ein großer Teil der Herren Theaterbesitzer, die Ihren Ausführungen beigewohnt haben, sich daran erinnern wird, daß, wenn ich mich nicht irre, Sie es waren, sehr geehrter Herr Kommerzienrat, der vor nicht allzulanger Zeit dieselben Herren Theaterbesitzer vor dem Tonfilm im allgemeinen und vor der Anschaffung der Apparaturen im besonderen gewarnt hat. Die in diesem Falle bewiesene Weitsicht scheinen Sie auch weiterhin in Anwendung bringen zu wollen.
Im übrigen sehe ich und wahrscheinlich viele andere Produzenten dem ersten Programm Ihrer Reichsfilm AG mit ganz besonderem Interesse entgegen, da uns bei dieser Gelegenheit offenbart werden wird, wie ein Programm auszusehen hat, welches dem deutschen Film Weltgeltung verschafft. 

Hochachtungsvoll
S. Nebenzahl

Kinematograph, Nr. 196, 23.8.1930

 

 

Vereinigte Starfilm eröffnet die Saison mit "Kohlhiesels Töchter"

Die Vereinigte Star-Film hat in der vergangenen Saison als erste Tonfilme WESTFRONT 1918 und SKANDAL UM EVA mit Henny Porten herausgebracht, und beide Filme sind große Treffer geworden.
Die Vereinigte Star-Film ist bemüht, auch in der kommenden Saison nur ganz hochwertige Tonfilme herauszubringen und startet gleich als ersten KOHLHIESELS TÖCHTER mit Henny Porten in der Hauptrolle (Gemeinschafts-Produktion Nero-Film - Henny-Porten-Film).
In Theaterkreisen wird dieser Film bereits mit großer Spannung erwartet, denn der Stoff, der schon als stummer Film außerordentlich wirksam war, gibt der darstellerisch vielseitigen Henny Porten Möglichkeiten, die ihr der stumme KOHLHIESEL nicht bieten konnte. Eine ganz besondere Überraschung wird ein Duett sein, das Henny Porten, die eine Doppelrolle spielt, mit sich selbst singt. (...)

Film-Kurier, Nr. 212, 8.9.1930

 

 

S. Nebenzahl: "Die Chance des großen Wurfes..." - wird ausgenutzt! - 
Siehe Nero-Produktion

Gemessen an den Forderungen, die erst kürzlich hier als die Lebensfrage der deutschen Filmproduktion unter dem Motto "Verzicht auf die Chance des großen Wurfs?" aufgestellt wurden, bedeutet die soeben angekündigte neue Nero-Produktion einen großen Wurf in jeder Einzelheit. Also, eigentlich 4 große Würfe - 4 Trümpfe.
Elisabeth Bergner - Fritz Lang - Henny Porten - G. W. Pabst - sie sind das Quartett der unabhängigen Künstler, jeder für sich ein Begriff - die von Seymour Nebenzahl in einer Produktion, für einen Verleih (insgesamt fünf Filme, da zwei Porten-Filme) vereinigt worden sind.
Mit Recht kann sich Seymour Nebenzahl darauf berufen, daß er den Willen zur absoluten Qualität durch die projektierten Filme von Format in ganz erstaunlicher und höchst anerkennenswerter, ja in einzigartiger Weise durch seine Firma bekundet.
Zunächst bedarf die Durchführung dieser Fabrikation einer äußersten Organisationsfähigkeit und einer starken finanziellen Basis - neben dem Willen zur Kunst im Film.
S. Nebenzahl, der Wagemutigste, der Erfolgreichste unter den Unabhängigen, heute erst 32 Jahre alt - wird es schaffen, er ist Optimist - ohne ein verstiegener Illusionist zu sein. Er weiß, was er will - und setzt es durch, auch ohne Diktatorgeste.
Freudenbotschaft für alle, die Qualität im Film herbeiwünschen - S. Nebenzahl erklärt: "Die Filme von Fritz Lang ›Mörder unter uns‹ (November) und Elisabeth Bergner ARIANE (Oktober) werden unverzüglich in Angriff genommen - der Pabst-Film ›1914‹ beginnt am 1. Dezember - mit dieser gesamten Großproduktion kann das deutsche Kino in dieser Saison rechnen."
Und für diese gute Botschaft fehlt hier auch der Glaube nicht. Der Aufstieg der Nero unter Nebenzahl ist zu markiert und das Bündnis mit den fähigsten und anerkanntesten Filmrepräsentanten zu aussichtsvoll, um nicht an die angekündigte Produktion die größten Hoffnungen zu setzen. Einzelheiten über die vier bzw. fünf Werke sind den Lesern des Film-Kurier bereits bekannt.
Wir werden nicht unterlassen, auf die Arbeit und das Werden dieser Produktion fortlaufend hinzuweisen.

Film-Kurier, Nr. 229, 27.9.1930


Vorheriger Artikel - Nächster Artikel - Zurück zur Übersicht