Als die Bilder singen lernten. Materialien zum 11. Internationalen Filmhistorischen Kongreß, Hamburg, 5. - 8. November 1998.

Friedrich Hollaender

Vom Tonsinn

in: Film und Ton (Wochenbeilage der Licht-Bildbühne), Nr. 50, 13.12.1930.


Friedrich Hollaender hat, was für uns in seinem Schaffen am wesentlichsten ist, zuerst den Tonfilm-Song eigensten Gepräges geschaffen. Das Wesen der Rolle und die Interpretierungsmöglichkeiten von Marlene Dietrich sind von ihm so fundamentiert, daß Star, Figur und Tonfilm »von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt« Weltruf erobern konnten. - Am Dienstag wird die Abenteurer-Komödie EINBRECHER herauskommen, zu der Friedrich Hollaender die Musik schrieb. Aus diesem Anlaß sei ihm hier das Wort gegeben:

In einer Betrachtung, überschrieben »Zur Wuppermusik«, die sich mit den Anregungen der Lasker-Schüler-Dichtung beschäftigte, prägte der Humperdinckschüler einen Satz, den mancher vor ihm schon erkannt hat, den mancher nach ihm noch bestätigen wird: »Kann ein Mensch sagen, daß er die Form fand? Wir können von Jahrtausend zu Jahrtausend nur suchen, können nie endgültig sein«.

Das liegt zwölf Jahre zurück.

Dazwischen liegen einige tausend Jahre. Nicht nur, weil wir inzwischen den Expressionismus, Dada, Jazzmusik, Millionenmarkscheine und den Hunger kennen gelernt haben.

Das Zeitmaß ist ein anderes geworden.

Das tempo commodo hat sich zum tempo tempestoso gewandelt. Ich will sagen: Wir können es uns nicht mehr leisten, auf die Inspiration zu warten. Wir sind dressiert, die Einfallskraft zu dressieren. Wir haben nicht mehr ihr, sie hat uns zur immerwährenden Verfügung zu stehen.

Vor allem beim Tonfilm.

Die Arbeit am Tonfilm hat mit dem Seemannsleben eines gemeinsam: das Aufeinander-angewiesen-sein.

Zusammenarbeit und Verständigung zwischen Regisseur, Schauspieler, musi-kalischem Leiter und Akustik-Fachmann sind unerläßlich, soll der Tonsinn einer Szene nicht zum Unsinn werden.

Ich glaube, man darf strengere Forderungen an den Tonfilm stellen.

Das Problem der Tonfilm-Komposition liegt in der Behendigkeit der Auffassungsgabe des Tonkünstlers, in seinem Einfühlungsvermögen und in dem Geschick, Ton und Bild auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.

Es ist erforderlich, daß der musikalische Mitarbeiter ständig den Filmaufnahmen beiwohnt; oft genug geschieht es, daß ein plötzlicher Bildgedanke des Regisseurs einer ebenso plötzlichen Ton-Idee bedarf. Die Tempo-Kollektiv-Arbeit ist im Gange: Andeutungen auf dem Piano, Verständigung mit dem Spielleiter, Feststellung, daß Bild und Ton harmonieren, Niederschrift der Instrumentation, Orchester-Probe, Ton-Aufnahme - all das in weniger als Halbtagsfrist.

Parenthetisch sei bemerkt, daß selbstverständlich sich die Arbeit des Tonfilm-Komponisten nicht etwa auf die »Blitzlichtarbeit« beschränkt. Viele Melodien entstehen nach dem Studium des Drehbuches in gründlicher Vorbereitung daheim zur Seite des wärmenden Ofens.


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