Reihe CineGraph Buch


Helga Belach, Wolfgang Jacobsen (Redaktion):
Richard Oswald. Regisseur und Produzent

Filmmann und Filmkritiker:

Willy Haas und Richard Oswald

Karl Prümm


Die kurze libertäre Phase des nachrevolutionären Weimarer Kinos hat scheinbar nur einen Namen: Richard Oswald. In den zeitgenössischen Dokumenten gewinnt seine Gestalt überdimensionale Züge, die ans Phantomhafte grenzen. Richard Oswald geistert durch die Kritiken und Polemiken, als sei er die Imagination der panischen Ängste vor dem Bild, das nun aus jeder Kontrolle entlassen war, vor einer »Kultur«, die vorgeblich dem »Geschäft« überantwortet wurde. Oswald war der gewünschte Repräsentant wilder antisemitischer Ressentiments und richtungsloser antikapitalistischer Affekte. Seine Erfolge wurden zu Spekulationsgewinnen erklärt, seine Allgegenwart als Produzent, Autor, Regisseur und Kinobesitzer wurde ins Diabolische, seine Produktivität ins Unheimliche verschoben. Richard Oswald figurierte weithin als Überschurke der hemmungslosen Schaulust, als gewissenloser Agent des schlechten Geschmacks und der billigen Sensationen, als Serientäter der Unsittlichkeit.

Wer solchermaßen zum Opfer einer »Filmkritik« wird, die bloß ihre negativen Phantasien ausschreibt, hat allen Grund, sich zu beklagen. Wiederholt hat Oswald sein Anrecht auf eine »seriöse Kritik« hervorgehoben.[1] Er tut dies überraschend nüchtern und moderat, die betonte Sachlichkeit verbirgt die erlittenen Verletzungen. Eher indirekt läßt sich aus den bewußt sehr allgemein gehaltenen Formulierungen die tiefe eigene Betroffenheit herauslesen. Als ein Subtext ist in die »Kritik der Kritik« die eigene Geschichte eingeschrieben.

1920, in einer Einsendung an die Wochenzeitschrift »Das Tage-Buch«, konzediert Oswald der öffentlichen Rede über den Film nicht einmal den Status einer »Kritik«. Inkompetenz und Interesselosigkeit, so lautet sein vernichtendes Urteil, seien vorherrschend: »Kinofeinde eignen sich nicht zu Filmkritikern«.[2]

Oswald selber mußte mehr als einmal leidvoll erfahren, wie generelle Aversionen gegen das Medium die Einzelurteile deformierten, wie medienfremde Diskurse die »Kritiken« überlagerten und in moralische Traktate verwandelten. Stattdessen wünscht sich Oswald einen Dialog, der von der gemeinsamen Liebe zum Kino und vom ausgeprägten Glauben an dessen Zukunftsträchtigkeit getragen ist.

»Er selbst, der Kritiker, muß unterscheiden, ob der Film eine rein äußerliche oder eine menschliche Angelegenheit ist. Er muß wissen, daß der beste Regisseur oft der ist, den man nicht merkt, und daß viel Geld ausgeben noch keine Regietat ist. Er muß den neuen Weg Suchende fördern und muß auf die Freude verzichten können, einem anderen Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Er muß ihm nicht nur sagen, daß er es falsch gemacht hat, sondern auch, wie er es richtig machen soll. Er muß eben vor allem etwas sagen. Sagen kann nur der, der etwas zu sagen hat.« [3]

Deutlich ist das Wunschbild die Umkehrung der eigenen Erfahrung. Neid und Mißgunst sieht Oswald als die dominanten Motive der auf ihn gerichteten Kritik, die seine Ambition auf den blanken Geschäftssinn zurückführt. Absolute Blindheit wirft er ihr vor, sowohl gegenüber dem Ethos, der »menschlichen« Dimension seiner Sittenfilme, als auch gegenüber ihren ästhetischen Ansprüchen. Bei aller Verbitterung gleitet Oswald an keiner Stelle in Larmoyanz ab, sein Selbstbewußtsein ist ungebrochen. Der Artikel »Film-Kritik« vom Dezember 1921 offenbart dies noch schärfer.

Im Publikumserfolg erkennt Oswald nun jenen Respekt vor seiner Leistung, den eine dilettantische Kritik ihm verweigert. Der Text strahlt die Gewißheit aus, daß die geforderte autonome und kontinuierlich arbeitende Filmkritik, die »alle Filme« im Blick hat, und der sich »Vergleichsmöglichkeiten« eröffnen, an den innovatorischen Qualitäten der eigenen Produktionen nicht vorbeisehen könne.

Willy Haas ist gewiß ein Kritiker, der Oswalds Wunschbild entspricht. 1920 trat er in die Redaktion des Fachorgans »Film-Kurier« ein und stieg rasch zu dessen wichtigstem Autor auf. Kontinuität und Vielfalt seines Schreibens sind eindrucksvoll. Zahlreiche Einzelbesprechungen aus allen nationalen Kinematografien zielen auf jene Universalität, die Oswald für eine erst zu begründende Filmkritik reklamiert hatte. Resümierende Artikel fassen zusammen und wagen Ausblicke, Adnoten und Notizen entfalten Schritt für Schritt eine flexible Theorie des Films. Eine Tageszeitung wie der »Film-Kurier« ermöglichte Haas einen Fluß der Rede, der bis 1925 kaum einmal ins Stocken gerät, eine explorative Theorie, die sich beständig verfeinerte und korrigierte, eine alltägliche Schule der Wahrnehmung und der Beschreibung.

Im Februar 1921 wird Haas auf Richard Oswald aufmerksam. Seine Kritik des Films DIE LIEBSCHAFTEN DES HEKTOR DALMORE [4] ist noch eher zurückhaltend, doch ein Interesse ist geweckt, das sich zu überschwenglicher Begeisterung steigert. Haas verfolgt fortan gespannt beinahe jeden Oswald-Film und schreibt dabei dem Multitalent eine Bedeutung zu, an die selbst seine erklärten Regiefavoriten Murnau und Ludwig Berger nicht heranreichen.

Nach 1925 verliert sich die Spur der euphorischen Anteilnahme. Die Kritik am Aufklärungsfilm DÜRFEN WIR SCHWEIGEN? [5] ist wie ein Abschiednehmen von einer Figur, die sich überlebt hat. Literarische Analogien sind, wie so oft in den Filmkritiken von Willy Haas, verräterisch. Es bedürfte schon eines »Zola des Films«, so heißt es am Anfang der Kritik, um einen Spielfilm über Geschlechtskrankheiten durch künstlerische Gestaltung zu einem »Instrument der sozialen Erkenntnis« zu machen. Oswald sei aber nur, so der Schlußpassus, der »Sudermann der Filmregie, der sich auf robuste Wirkung versteht«. Die genügt Haas nun allerdings nicht mehr, um weiter auf Oswald zu setzen. Leise, aber doch entschieden, distanziert er sich von dem bei der Premiere »außerordentlich stark« beklatschten Film. Es blieb die letzte Oswald-Besprechung.

Zehn Tage nachdem diese Kritik erschienen war, blickt Haas, offenbar im Bewußtsein, eine filmhistorische Wende zu erleben, auf die eigenen Anfänge zurück: »Wie ich Filmkritiker wurde« [6]. Anders als dies die Kritiken seit 1921 eigentlich erwarten lassen, fällt der Name Oswald in diesem Rechenschaftsbericht an keiner Stelle. Voller Genugtuung verweist Haas darauf, als einer der ersten die Bedeutung Murnaus und Bergers erkannt zu haben. In der »ungeheuren, heute noch gar nicht absehbaren Zukunft des Films« wird Oswald keine produktive Rolle mehr zugetraut. Für Haas war Oswald allem Anschein nach eine Zentralfigur des Inflationskinos, der schnellen und unaufwendigen Produktionen, des überdrehten Erzähltempos und der grellen Effekte. Im Zeichen des Großfilms, des gesteigerten ästhetischen Raffinements, der genau kalkulierten syntagmatischen Fügung und der auf Kontinuität setzenden Narration konnte ein Regisseur nicht mehr bestehen, der auf den paradigmatischen Blick angewiesen war, der seine Wirkung aus dem grotesken Konglomerat und der rohen Montage bezog.

Lucrezia Borgia: Conrad Veidt, Alexander Granach

Dreißig Jahre später (für wen war da noch Richard Oswald gegenwärtig?) fügt Willy Haas in seine Erinnerungen »Die literarische Welt« eine kleine Hommage an Oswald ein. [7] Geradezu provokativ gegenüber einer auf Carl Mayer und Murnau fixierten Historiografie feiert Haas Oswald als Erfinder und »Meister« des vielbeschworenen »deutschen Kammerspielfilms«. Es war dies keineswegs eine huldvoll-herablassende Würdigung eines Vergessenen durch einen prominenten Vertreter des bundesdeutschen Feuilletons, es war vielmehr die präzise Erinnerung an die Argumentationslinien der eigenen, weit zurückliegenden Filmkritiken.

Schon 1921 wendet Haas die Kategorie »Kammerfilm« auf Oswalds DAS HAUS IN DER DRAGONERGASSE an, als Bezeichnung eines »inneren Formats«, eines »Stils«, als Umschreibung der »dünnen, verplauderten, grazil-unverbindlichen Art«. [8] Widersprochen ist damit den Definitionen der gängigen Kritik, die den »Kammerfilm« nach rein äußeren Kriterien bestimmte.

Die Konstellation Richard Oswald - Willy Haas läßt sich deuten als zumindest temporäre Erfüllung gegenseitiger Wunschbilder vom »Filmmann« und vom »Filmkritiker«. Ein Konsens in Grundsatzfragen verbindet beide. Die »Liebe zum Film«, die nicht immer wieder in den elementaren Zweifel am Kino zurückfällt, verlangt Oswald der Kritik ab. [9] Seine radikale Cinéphilie, die Untrennbarkeit von professioneller Affektion und privater Leidenschaft bekennt Haas 1926: »Ich liebe den Film. Oft habe ich vier, fünf Abende in der Woche ,beruflich' mit Premieren vergeben. Aber wenn ich dann endlich einen Abend frei habe - dann gehe ich meist doch wieder ins Kino.« [10]

Die pessimistische Suada, die gleichzeitig Hans Siemsen pflegte, [11] ist Haas fremd. Sein Blick ist ausschließlich nach vorne gerichtet. Der Film ist für ihn eine »werdende Kunst«, ist bloß »auf dem Wege« - dies sind beinahe schon stehende Formeln vieler seiner Texte. Die Verbindung mit dem »Traditionellen« sei ungewiß, das geschichtslose Medium läßt sich nur in seiner Transitorik erfassen. Das Umreißen des Kommenden und Möglichen wird daher zur entscheidenden Operation der Kritik. Ganz ähnlich hatte Oswald postuliert: »Hauptzweck der Filmkritik ist (...) nur Förderung des Erzeugnisses für die nächsten Erzeugnisse.« [12]

Hier treffen sich zwei Konzeptionen: das Selbstverständnis eines Regisseurs, der keine »Ewigkeitswerte« schaffen will, sondern das Vorläufige und Revidierbare ausstellt, und das offene experimentelle Schreiben eines Kritikers, der im Sehen und Beschreiben unzähliger Filme sein »Filmideal« konturiert. Dieses Programm einer prospektiven Kritik gestattet ihm, von einem Kino zu träumen, das die Fesseln des Narrativen und der Theaterästhetik abgestreift hat, das »sprachloses Vorübergehen« [13] und reine »Bildsymphonie« geworden ist.

Der angestrengte Blick nach vorne enthebt Haas auch zu einem guten Teil der Kalamität, für ein Interessenorgan der Filmwirtschaft zu schreiben und dabei dennoch ein autonomer und unbestechlicher Kritiker bleiben zu wollen. Der Zwang entfällt, das Erreichte partout zu würdigen und die Errungenschaften des deutschen Films lauthals zu propagieren. Prospektiv war die Filmkritik im »Film-Kurier« aber auch noch in einem anderen Sinne. Die Folgen jedes Urteils waren zu bedenken. Bisweilen legt Haas die quälende Vor-Reflexion offen: »Industrieförderung ist eine schöne Sache. Es fragt sich nur: Fördere ich die Industrie besser, indem ich schlechte Filme preise oder indem ich sie als das enthülle, was sie sind. Wenn ich sie lobe, trage ich zu ihrer Verbreitung bei und damit zur Diskreditierung des deutschen Films in In- und Ausland. Schreie ich sie an, so verkriechen sie sich vielleicht und lassen die Bahn frei für Schöneres, Stärkeres, Nützlicheres. Also ich schreie.« [14]

Lady Hamilton: Reinhold Schünzel, Werner Krauß

Der Aufschrei gilt keineswegs der permanenten Selbstkontrolle, der sich sein Schreiben unterwerfen muß. Sein Kritikkonzept, das er in mehreren Anläufen entwickelt und dann in einem zeitweiligen Artikel ausformuliert, [15] macht vielmehr das unumgängliche Involviertsein in den industriellen Komplex zum Angelpunkt des Entwurfs. Haas vermittelt zwischen den vielen Rollen und Interessen des Kinogängers, des Kritikers und des Drehbuchautors. Dem uneingeschränkten Subjektivismus der »Tageskritik«, der Tagespresse, der traditionellen Figur des Kunstrichters, der auf seiner Metaebene verharrt, bestreitet Haas nicht die Legitimation, grenzt das eigene Schreiben aber entschieden davon ab. Dem antiquierten Diskurs der Kritik wird das Modell einer handelnden, eingreifenden »Fachkritik« entgegengehalten, die in die Verantwortung genommen wird, die in »aktiver Nähe« zur Industrie operiert, die »Ästhetik und produktives Leben«, praktisches Experiment und theoretische Reflexion zusammenbringt.

Eine rein ästhetische Kritik, so folgert Haas, ist ihrem Objekt in jeder Hinsicht unangemessen. Sie muß um neue Diskurse erweitert werden, um das technische Denken, um die Kategorie des »Populären«, der »geschäftlichen Prosperität«, um ökonomische Faktoren. Die vermeintliche Engführung auf eine bornierte »Fachkritik« weitet sich zu einem beachtlichen, vieldimensionalen Modell.

Ein ostentativer Pragmatismus zeichnet die Filmkritik und Filmtheorie von Willy Haas aus. Zur selben Zeit, da Béla Balázs seine Filmkritiken zu einer »Kunstphilosophie« verdichtet, sie zu einer »Theorie« systematisiert, die für die weitere »Kunstentwicklung« wie ein »Kompaß« wirken soll, [16] beläßt es Haas bei fragmentarischen Skizzen und immer wieder neuen Ansätzen. Seine Rede will sich nicht festlegen, sie tastet vorsichtig die einzelnen Filme ab und sucht nach Momenten, die das Denken inspirieren. Das Vorrationale bleibt daher bestimmend, »Instinkt« für das Neue, »Instinkt« für wirkliche Qualität müssen nach Haas den Kritiker vor allem auszeichnen. Dessen sensitives Denken hat ein stimulierendes Fluidum zu erzeugen, eine »innere Form«, aus der Produktivität entsteht, die sich den Diktaten der »Fabrikanten« und Techniker widersetzen kann. [17] Der Kritiker ist der Agent des Immateriellen in der handfest materiellen Welt des Films.

Dies sind die Voraussetzungen, mit denen sich Willy Haas Richard Oswald intensiv zuwendet. Wie die eingeschworenen Oswald-Feinde, so ist auch Haas zunächst fixiert auf die Person. Der »Mann« schiebt sich vor seine Filme und beansprucht alle Aufmerksamkeit. »Wenn man über einen Film von Richard Oswald schreibt, so möchte man immer am liebsten nur von dem Mann selbst sprechen, der, alles im allem, einer der interessantesten, aufreizendsten, innerlich lebendigen Köpfe der ganzen deutschsen Filmindustrie ist.« [18]

In der Tat werden die Filmkritiken, die sich Oswald widmen, zu einer personalisierenden Rede. Das Schema, das Haas für seine Alltagskritik entwickelt hatte, ein Abtrennen und Durchgehen der Anteile von Manuskript, Regie und Schauspielerleistung, funktioniert hier nicht mehr. Die negative Charakterologie der Anti-Oswald-Polemik wird in eine überdimensionale Huldigung verkehrt, die an die Genieästhetik des 18. Jahrhunderts heranreicht.

Das kritische Räsonnement kapituliert vor diesem »kollossalen Temperament«, vor diesem »ganzen Kerl«, vor der Kraftnatur, die alle und alles in Bann schlägt. So wird Oswald zu einem singulären Repräsentanten eines radikalen Autorenfilms erhoben, der noch einmal alles zusammenzwingt, das ökonomische Kalkül, das Management der Produktion, die technische Apparatur, die ästhetische Praxis des Drehbuchschreibens und der Inszenierung. Oswald, so bescheinigt ihm der hingerissene Kritiker Haas, beherrschte alle Rollen, prägte bis ins Detail seinen »Stil« aus, machte den Film zu einer geschlossenen, ganz persönlichen Erzählung. Haas, der skrupulöse Intellektuelle, bewundert das Autokratische, das ohne Selbstzweifel und programmatische Begründungen einfach handelt und sich durchsetzt.

Das Vorrationale, das Haas so wichtig ist, kommt hier zur Geltung. Oswald entspricht genau jenen Erwartungen, die Haas zum Jahresanfang 1921 mottohaft im »Film-Kurier« formuliert. Nicht die »Theorie«, die »Ästhetik« des »grübelnden« Intellektuellen könne der »werdenden Kunstform« des Films den Weg weisen, sondern nur der »eigene Instinkt«. »Ist dieser Instinkt da? Der unbewußte, traumhafte Instinkt? Der vitale Instinkt, der allein den Weg weisen kann in der unergründlichen Welt des organischen Wachstums? Der allein die Bestimmung zum Leben, zu einer lebendigen Zukunft verrät?« [19] An dieser Stelle macht Haas das »Instinkthafte« noch fest an der »wachsenden Intensität des künstlerischen Ausdrucks«, die er beobachtet. Bei Oswald schließlich finden diese Hoffnungen eine persönliche Repräsentanz.

Dem »Instinkt« und der untrüglichen Witterung zu vertrauen, heißt aber auch, auf eine diskursive Kritik weitgehend zu verzichten, sich dem Heros auszuliefern und ihm bei allen rational nicht begründbaren Entscheidungen zu folgen. Bis hin zu LUMPEN UND SEIDE (1925) ist Haas bereit, diesen Weg mitzugehen. Gegen Herbert Ihering, der Oswald auf »Gesellschaftskomödien und Hintertreppengeschichten« festschreiben möchte, [20] verteidigt er dessen Genrewechsel zum monumentalen Historienfilm, der auch ihn zunächst befremdet hatte. In der höchst umstrittenen pompösen Schiller-Paraphrase CARLOS UND ELISABETH erkennt er dann doch einen Regisseur wieder, der eine Vision hat, der den Traum erfüllen möchte, ein zugleich populäres und ästhetisch mitreißendes Kino zu machen: »(...) es ist eben jetzt eine Art innerer Physiognomie durch das Werk durchgebrochen, eine ganz bestimmte individuelle Form von populärem Kunstwollen, eine festumrissene, faßbare Gesamteinstellung, ein nicht gedachtes, sondern gestaltgewordenes Endresultat zu dem entscheidenden, prinzipiellen Filmproblem: Was ist wirklich volkstümlich?«

Lumpen und Seide: Mary Parker

Oswald ist also für Haas ein praktischer Denker, der durch Handeln, durch Erzählen und Inszenieren mit zäher Konsequenz an der Lösung der Frage arbeitet, die auch ihn quer durch alle Kritiken beschäftigt: Wie läßt sich die auf Massenerfolg angewiesene Ware Film »versöhnen« mit dem avancierten ästhetischen Bewußtsein, das von der literarischen Kultur geprägt ist, von normativen Erwartungen wie Differenziertheit und Komplexität, Reichtum und Tiefe? Oswald, der Bündnispartner, habe eine Antwort gefunden, sei dem Kritiker voraus. Auch der »Anspruchsvollste von heute« könne CARLOS UND ELISABETH, könne diese »Augenweide« mit reueloser »Lust« genießen. Haas ordnet Oswald der großen populären Kunsttradition des 19. Jahrhunderts zu, sieht hier eine Fortsetzung der unwiderstehlichen Rhetorik, des opernhaften Pathos, der großen Geste und der perfekten Inszenierung.

»Er lehnt sich an unbezweifelbar schlagende Exempel. Volkstümlich, wirklich volkstümlich war Victor Hugo, seine große Attitüde, seine erhabenen Tirade, sein krasses Nebeneinander von ganz-hell und ganz-dunkel. Verzückung und Absturz. Himmel und Hölle, Schönheit und Häßlichkeit; der ungeheure dekorative Hofpomp seiner Maschinerie - und die breite demokratische Geste hinter allem. Meyerbeer und die ganze große Oper kommen daher. Und von ebendort kommt Oswalds heutiger Großfilm.« [21]

Wie problematisch dieses Setzen auf den instinktsicheren Filmmann, auf das untrügliche Taktgefühl war, mußte Haas schon bald erfahren. LUMPEN UND SEIDE befestigt noch einmal die vorgezeichnete Linie des Oswald´-Bildes, das Urteil der Kritik wird in eine Balance gebracht. Der vitale Erzähler habe an Kraft und Rücksichtslosigkeit eingebüßt, alles sei inzwischen »etwas gemäßigter geworden, weniger unbefangen, weniger frech-kühn, weniger umschmeißend«. Dies werde jedoch durch einen Zugewinn an Eleganz und präziser Disposition, durch die stärkere Beachtung des »Bildrhythmischen, Bildmusikalischen« mehr als ausgeglichen. Oswald habe sich deutlich »neueren Regietendenzen« angepaßt, seine singuläre Position also verlassen.

Bei dem Aufklärungsfilm DÜRFEN WIR SCHWEIGEN? überwiegt dann der Eindruck des »Robusten« den des ästhetischen Raffinements und des Gelingens. Die Trennung von Oswald bedeutete gewiß auch einen Zusammenbruch des personalistischen Konzepts der Filmkritik von Willy Haas, die ja auch Filmpolitik sein wollte. Mitte der 20er Jahre hatte die Genieästhetik nun endgültig abgedankt.

Glücklicherweise war es kein blindes Vertrauen, das Haas Oswald entgegenbrachte, die Bewunderung machte ihn nicht sprachlos. Was er an den Filmen wahrnahm, wie er diesen Personalstil charakterisierte, welch überwältigende Rhetorik er selber entfaltete, ist bis heute erregend modern und lebendig, kann auch gegenwärtigen filmkritischen Diskursen noch als Vorbild dienen. Seine Kritik von LUMPEN UND SEIDE schließt mit der bezeichnenden Bemerkung, nach diesem Film fühle man sich »gut aufgelegt«, als habe man ohne Anstrengung »die Bilder eines guten ,Magazin' durchgeblättert«. Filmesehen begriff Haas als Lektüre, seine Kritiken entziffern einzelne Bilder, zeichnen auf das Genaueste visuelle Bewegungen nach, bleiben dicht am Material und seiner Struktur. Das Zerrissene und Montierte fixiert er immer wieder als das entscheidende Element der frühen Oswald-Filme. Während Ihering Oswald der Unfähigkeit zur Komposition anklagt, ein »sprunghaftes hin- und hergezerrtes Durcheinander« bemängelt [22], ist für Haas gerade das »unkonstruierte Chaos«, die rasante Abfolge auseinanderstrebender Bilder die entscheidende Qualität. [23] Oswalds Filme sind für ihn in ihrer Verkürzung und Zuspitzung, in ihrer dramatischen Verdichtung und im Nebeneinander von grellen Effekten novellistischen Prinzipien verpflichtet. »Sie haben eine gute Haltung, eine zynische Novellenhaltung, direkt eine Caillavet-de-Fiers- Haltung, manchmal sogar eine Maupassant-Haltung; und das heißt was!« [24]

Auffällig oft kehrt der Begriff des Zynischen wieder, um Oswalds Stil zu kennzeichnen, das scheinbar Leicht-Causeur-hafte, das aber seine Mittel beständig kontrolliert und selbst das Sentimentale kalt zum Einsatz bringt. Peter Sloterdijk hat den Zynismus als zentrale Haltung ausgemacht, die alle kulturellen Repräsentationen der Weimarer Republik durchdringt. Der Schock der Modernisierung, die Verzweiflung über den »Zerfall der Werte«, ein immer rezentes Bewußtsein von Vakuum und Bedrohung, die Klage über eine Öffentlichkeit, in der jeder das Wort ergreifen konnte, die Plötzlichkeit des Egalitären - all dies drängte zum zynischen Sprechen. Die Weimarer Kultur - so Sloterdijk - habe eine »Fülle glänzend artikulierter Zynismen hervorgebracht«. [25]

Zu ihnen zählen gewiß die frühen Filme von Richard Oswald. Dieses Moderne und Neue, Scharfe und Ungemütliche hat Haas gesehen und in seinen Kritiken aufgezeichnet. Er hatte einen Blick für das zugleich Reflexive und Schonungslose, für das Zeigen, das sich jeder idealistischen Verbrämung enthielt. »Das alles erfrischt«, faßt Willy Haas die Wirkung der Oswald-Filme zusammen, »denn Abwesenheit der Lüge erfrischt immer«. [26]

Anmerkungen:

  1. Richard Oswald: Gebt uns Filmkritiker. In: Das Tage-Buch, Nr. 49, 18.12.1920, S. 1578.
  2. ibid.
  3. ibid, S. 1579.
  4. Film-Kurier, Nr. 46, 23.2.1921.
  5. Film-Kurier, Nr. 81, 7.4.1926.
  6. Wie ich Filmkritiker wurde. In: Film-Kurier, Nr. 90, 17.4.1926.
  7. Die literarische Welt. Erinnerungen. München: List 1957, S. 100-102.
  8. Film-Kurier, Nr. 146, 24.6.1921.
  9. Film-Kritik. In: Der Montag, Sonderausgabe des Berliner Lokal-Anzeigers, Nr. 13, 19.12.1921.
  10. Film-Kurier, Nr. 90, 17.4.1926.
  11. Vgl. die Aufsätze von Hans Siemsen in: H. S.: Schriften II. Kritik-Aufsatz-Polemik. Hg. v. Michael Föster. Essen: Torso 1984.
  12. Film-Kritik (Anm. 7).
  13. Der Film, das Débacle der Techniker. In: Film-Kurier, Nr. 3, 3.1.1924.
  14. Das Zimmer mit den 7 Türen. In: Film-Kurier, Nr. 77, 4.4.1922.
  15. Tageskritik und Fachkritik. In: Film-Kurier, Nr. 36 und 38, 11.2. und 13.2.1924.
  16. Béla Balázs: Der unsichtbare Mensch oder die Kultur des Films. Wien/Leipzig: Deutsch-Österreichischer Verlag 1924, S. 14.
  17. Soziologie und Filmgeschäft. In: Film-Kurier, Nr. 88, 19.4.1922.
  18. Carlos und Elisabeth. In: Film-Kurier, Nr. 50, 27.2.1924.
  19. Neue Wege des Kunstfilms 1920. In: Film-Kurier, Nr. 3, 1.1.1921.
  20. Herbert Ihering: Der Don Carlos-Film. In: Berliner Börsen-Courier, Nr. 98, 27.2.1924.
  21. Carlos und Elisabeth (Anm. 18).
  22. Der Don Carlos-Film (Anm. 20).
  23. Carlos und Elisabeth (Anm. 18).
  24. Das Haus in der Dragonergasse. In: Film-Kurier, Nr. 146, 24.6.1921.
  25. Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. 1. Band. Frankfurt: Suhrkamp 1983, S. 42.
  26. Halbseide. In: Film-Kurier, Nr. 274, 27.11.1925.

Ich danke Benno Wenz für die Recherche der weit verstreuten Film-Kritiken von Willy Haas.


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